Ausgewählter Beitrag

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Dieses Jahr fällt es mir schwerer, dir zu schreiben.
Wir haben die Hölle eines Jahres hinter uns. 
Das letzte halbe Jahr hat uns beziehungstechnisch mehr abverlangt als all die Tiefen zuvor. Selbst die hilflose Schwärze von vor 10 Jahren verblasst daneben, weil wir gerade nicht in Schmerz und Hilflosigkeit nebeneinander verstummen, sondern weil wir aktiv und in aller Härte gegeneinander ankämpfen.
Wir lösen uns aus der Zeit der kümmernden Elternschaft, wir geraten mit unseren neuen Bedürfnissen und Beziehungsvorstellungen und Ansprüchen an die Gestaltung unseres bald erstmals zweisamen Lebens massiv aneinander, gegeneinander vor allem. 

Diagnosen erleichtern alles und verändern nichts, habe ich vor nicht allzu langer Zeit geschrieben und bei Gott, ich hätte nicht falscher liegen können. Die Monate, in denen wir uns um dich und die Diagnose und um mich und die Hoffnungen gedreht haben, die ich nicht loslassen konnte, waren zermürbend für uns beide. Ich habe dir oft Unrecht getan und statt dir Halt und Sicherheit und Zuversicht zu sein, war ich ein weiterer Gegner, mit dem du es aufnehmen musstest. Ich bedaure dies zutiefst, auch wenn ich weiß, dass es mir anders nicht möglich war. Ich sehe aber, wie sehr du, wie sehr wir darunter gelitten haben, dass ich nicht über diesen Schatten springen konnte. Es tut mir leid um jeden Angriff, um jede Wut, um jede vergeudete Stunde, die wir uns gegenüberstanden, statt Seite an Seite die Herausforderung zu meistern. 
Um Silvester herum eskalierte so ziemlich alles und nun, fünf harte Monate später entdecke ich eine neue Ruhe in unserem Miteinander. Auch und gerade wenn es um die Themen geht, die ich im November oder Dezember noch nicht mit dir besprechen konnte, ohne in Schmerz und Wut und Hoffnungslosigkeit zu ertrinken. 

Wir verändern uns. 
Vielleicht stehen wir uns so nackt gegenüber wie noch nie zuvor in unserer Beziehung. 
Die letzten Mäntel des Schweigens wurden abgelegt, die rohe Wahrheit über uns, unsere Bedürfnisse und vor allem unsere Möglichkeiten liegen ungeschönt auf dem Tisch. Die Intimität, die daraus erwächst, ist enorm. 
Unser seelisches, geistiges und körperliches Verlangen nacheinander ist ungebrochen. Das Wissen um die Unumstößlichkeit dieses Umstands ist vermutlich die Triebfeder, die uns weitermachen, weiterhoffen und weiterfunktionieren lässt. 
Die unstillbare Sehnsucht nacheinander ist das, was uns über die Jahre auch durch dunkle Zeiten getragen hat. 
Es ist egal, was mit uns passiert ist, in der Nacht ist da diese andere Hand, die immer die meine umschließen wird. 
Und weil es ein sehr besonderes Beziehungsjahr war, möchte ich es mit einem stärkeren Bekenntnis als nur der Liebe abschließen:
Ich sehe dich.

Kati 30.05.2024, 08.00

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Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

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