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Das gibts nur in Filmen

Ich weiß nicht, wann ich das erste Mal jemanden, mit dem ich vorher am Tisch saß, in den Nachrichten wiedererkannte.
Ich denke, das muss so Mitte der 80er Jahre gewesen sein.
Natürlich habe ich diese Menschen verwechselt.
Manchmal nicht genau hingesehen, mir das eingebildet oder war wahlweise einfach nur ein dummes Kind, das keine Ahnung hatte.

Ich verstummte zuhause schnell und vertraute mich irgendwann Jahre später meiner besten Freundin an, als wir im Geschichts- und Politikunterricht auch über aktuelles Zeitgeschehen sprachen.
Sie hat mich ausgelacht und mir versichert, dass ich ja immer so unterhaltsam und originell sei. Das war mein Stempel und meine Schublade. Ein Phantast.
Charmant, ja. Charismatisch, ja. Unterhaltsam, sicherlich. Aber leider irre.

Die Bezeichnung Lügner wurde in meiner Familie inflationär benutzt, ohne das Wort jemals auch nur auszusprechen. Ich habe gelogen, wenn ich auf einen Missstand aufmerksam machte, ich habe natürlich auch in der Schule gelogen, als ich meinem Vertrauenslehrer anvertraute, ich würde zuhause bedroht, mein Vater sei ein Soziopath, ein schwerer Alkoholiker und gewalttätig, komische Menschen kämen in unser Haus und meine Eltern stünden kurz vor der Scheidung, weil mein Vater mal wieder eine Affäre hatte.

Der erfolgreiche Mann im Anzug, den jeder kannte und der Unmengen an Geld an die Schule spendete, brauchte sich niemals rechtfertigen. Es reichte, wenn er eine Augenbraue hochzog und fragte, ob ich wieder Geschichten erzählen würde. Ja, natürlich, nickte der Vertrauenslehrer dann mit einem verständigen Blick zu ihm und einem mitleidigen Blick auf mich.

An den meisten Tagen wusste ich selbst nicht mehr, ob ich mir nicht vielleicht doch alles nur einbilden würde.
Das prägt ein Kind.
Und das eigene Selbstbild.
Ich sah Menschen in Fernsehen und Zeitungen, mit denen ich in Restaurants gegessen habe und die mir übers Haar gestrichen hatten.
Ich erklärte mir selber, ich dürfte meiner Wahrnehmung niemals trauen, egal was passiert.
Ich hielt mich für verrückt und hoffte einfach nur, nicht irgendwann Amok zu laufen, weil die Stimme in meinem Kopf so laut das Gegenteil behauptete. 

Es war nicht die Erkenntnis. Es waren mehrere.
Die rasiermesserscharfen Shuriken, mit denen mir als Vorschulkind von der Kollegin meines Vaters das Werfen beigebracht wurde und die sie mir als Geschenk überreichte, bevor sie verschwand und ich sie nie wiedersah.
Die Waffen in unserem Haus.
Der eine Sommer, in dem ich plötzlich aus der Schule genommen wurde, weil unsere gesamte Familie dabei sein musste, als in Stockholm ein wichtiges Treffen war. Wie ich in Stockholm entweder in einem Hotel voller Männer mit Anzügen herumlief oder in Begleitung von 5 gigantischen Männern und meiner Mutter durch die Stockholmer Innenstadt bummelte.
Die Treffen bei uns zuhause, die dunklen Limousinen, die vor unserem Haus parkten.
Die vielen, unendlich vielen Männer in Anzügen, die mir Sätze in ihren Sprachen beibrachten.
Die Tracht Prügel, als ich vergaß, meinen Blick gesenkt zu halten und mich vor unserem Gast zu verbeugen und stattdessen mit hocherhobenem Kinn meine Hand ausstreckte und mich mit meinem Namen vorstellte. 
Mutig., sagte er damals in seiner Sprache und ich verstand das erst, als ich ihn als Erwachsene in der Zeitung wiedersah, weil man seine Leiche gefunden hatte.

Mein Leben kam mir immer wie ein 100.000-Teile Puzzle vor, das ich ohne jede Vorlage zusammensetzen muss.
Ich habe inzwischen einen großen Teil geschafft, aber davon, das Bild zu erkennen, bin ich noch unendlich weit entfernt.

Kati 21.08.2020, 08.00

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Kommentare zu diesem Beitrag

1. von Tanja

Das klingt tatsächlich wie ein Puzzle, ich wünsche Dir dass Du irgendwann das Bild erkennen kannst.

vom 22.08.2020, 06.56
Antwort von Kati:

Ich danke dir!


Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

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