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Drahtseil

„Du gehst seit Monaten nicht ans Telefon, wenn ich anrufe.“

- Ja, ich kann nicht.

„Willst du sprechen oder soll ich einfach weitergehen?“

Es ist zu spät. Ich merke, wie sich die Dunkelheit öffnet.

- Mein Vater hat sich umgebracht.

Suizid, hämmert es in meinem Kopf. Es heißt Suizid. Aber es ist egal. Der einzige Mensch, der so roh und brutal und ungefiltert sagen kann, was er denkt und der mich ohne Kompromisse genauso annehmen kann, steht hier vor mir und ich bin so lange Monate vor ihm weggelaufen, damit ich die Mauern oben lassen kann, dass jetzt nichts mehr geht.

„Wichser.“

Ich nicke. Habe kein Verlangen, ihn zu verteidigen, auf seine Krankheiten und Schmerzen hinzuweisen, zwischen uns ist Platz für brutale Wut und den Hass, den ich mir verbiete.
Ich merke, wie die Maske der Menschlichkeit immer weiter sinkt und sie lockt mich. Wie sie das immer tut. Spüre den Wechsel, der sich ankündigt und weiß wieder, warum wir normalerweise telefonieren. Zuhause kann ich mich fallen lassen, kann abtauchen in die Welt, die nicht meine sein darf. Hier nicht. Verfluche mich selbst, dass ich nicht vorsichtiger war, dass ich ihr in die Arme gelaufen bin.

- Kein gutes Thema.

Sie nickt. Auch sie ist in der Öffentlichkeit und hier werden Grenzen toleriert. Das haben wir gelernt.

„Ich werde wieder anrufen.“

Ich nicke. 

- Und ich weiß nicht, ob ich abnehmen werde.

„Vielleicht nächstes Jahr.“

- Ja. Vielleicht.

Vielleicht. Vielleicht nächstes Jahr wieder.

Kati 21.11.2022, 14.37

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Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

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