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Lauf!

Ich bin bereit. Das Laufband setzt sich langsam in Bewegung. Nur ein bisschen. Das Knie meckert, heute nur langsam. Aber ich muss laufen, ich muss die Gedanken loswerden, die Albträume der Nacht abschütteln. Ich muss mich bewegen. Uve Teschner wird mir die nächste Stunde vorlesen mit dieser Stimme, die in mir eine Ruhe hervorruft, die ich sonst nur in der Nähe des Mannes empfinde. Ich laufe. Meine Gedanken wandern von der Grenze zwischen Thailand und Burma immer wieder in die nahe Zukunft. Ich muss mich einem Menschen stellen, den ich mehr als jeden anderen verabscheue. Von dem ich dachte, ihn nie wiedersehen zu müssen. Ich versuche, mich auf die Stimme in meinem Ohr zu konzentrieren und wieder in meine Geschichte einzutauchen. Vielleicht laufe ich einfach etwas schneller. Das Knie wird mitziehen müssen. Mir wird warm. Gut. Noch ein bisschen Steigung dazupacken. Nicht denken. Den Kopf frei laufen. Burma. Die Aufständischen. Mein Held mit einer Mission im Dschungel. Weiter gehts. Überall Drohnen. Gefahr von oben. Regen, Nebel und hohe Temperaturen. Ich werde schneller. Der Körper schreit nach Forderung. Das Knie ist noch stabil, auch wenn es weh tut. Ich bin in einer abgelegenen Hütte in der Nacht. Die Erinnerung trifft mich wie ein Schlag. Die Fesseln. Der Ledergürtel. Der Schmerz. Der unendliche seelische Schmerz, der niemals von der körperlichen Versehrtheit eingeholt werden kann. Niemals. Schneller! Lauf schneller! Die ersten Schweißperlen stehen auf meiner Stirn. Burma. Wir haben die Grenze überquert. Der Fluss. Wir müssen noch über den Fluss! Ein Drohnenangriff. Verletzte, Tote. Blut. Der Schweiß, der mir am Hals herabläuft, fühlt sich plötzlich an wie Blut. Das Blut von damals. Seine Schläge. Sein Lachen. Das Wissen um das, was kommen würde, jetzt wo er maximal erregt war. Ich schließe die Augen und laufe weiter. Schneller. Wir kümmern uns um innere Blutungen, aber es ist klar, dass hier noch mehr Menschen sterben werden. Meine Erinnerung vermischt sich mit den Hass- und Gewaltphantasien, die ich mir schon so lange Jahre versage. Der Hass ist roh und kalt. Ich will das nicht. Nebenan startet der Sportkurs und harte laute Rhythmen dringen hinter der Erzählung an meine Ohren. Die Bässe geben meinen Laufschritt vor, noch ein paar Minuten durchhalten, nur noch ein bisschen. Selbst Uve Teschners Stimme erhebt sich. Die Ereignisse im burmesischen Dschungel überschlagen sich. Ich will nicht mehr an ihn denken. Nicht mehr daran, wie ich mich nass und blutig und wund endlich in der Dunkelheit zusammenrollen konnte, die mich mit sanften Armen umfing. Jedes Mal. Ich habe jeden Verrat überlebt. So viel Schmerz. Ich will nicht mehr. Weiterlaufen. Schneller. Weiter. Nur weiter. Gegen den Schmerz. Gegen die Erinnerung. Gegen den Ekel. Gegen den Hass. Völlig erschöpft steige ich nach einer Stunde vom Laufband und trockne mit dem Handtuch mein Gesicht ab. Ich blicke darauf und sehe kein Blut. Es ist Schweiß. Nur Schweiß. Mein Herz pumpt und ich fühle mich leer. Leergelaufen, leergefühlt. Der Held der Geschichte hat das Schlimmste hinter sich und kämpft nun nur noch gegen die Versuchung. Enttäuschend, dass selbst ein gutes Buch diesen billigen Aspekt nicht auslassen möchte. Ich weiß, er wird scheitern. Wir alle scheitern irgendwann an unseren niederen Instinkten. Ich ziehe mich um, packe zusammen und gehe nach Hause. Weiter. Immer weiter.

Kati 16.07.2019, 12.00

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Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

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