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Parallelwelten

In meiner Freizeit spiele ich ein MMORPG, dem mein ganzes Herz gehört - seit nunmehr über 12 Jahren.

Angefangen alleine, dann mit dem Mann gespielt, dann eine Gilde gegründet.
Mit Internetzmenschen.
Bis es irgendwann eskaliert ist, ich von einem auf den anderen Tag den Account gelöscht und einen Neuen erstellt habe, auf dem mich niemand findet.
Viele Jahre vergingen und zumindest ich hütete dieses Geheimnis meiner Zufluchtswelt, in der alles bunt ist, auch wenn meine Welt in Dunkelheit versinkt.
Jahre, in denen ich ausschließlich alleine oder mal mit dem Mann spielte. Gruppen nur mit fremden Spielern bildete, die ich nie wiedersehen würde.
Dann kam eine sehr lange Verletzungspause, in der ich so gut wie gar nicht spielen konnte, weil mein Körper streikte.

Seit einigen Monaten ist alles anders.
Da sind wunderbar liebenswerte Menschen aus Blogs und aus Twitter und aus meiner Vergangenheit, die sich alle bei uns versammelt haben, um mit uns zu spielen.
Irgendwie hat das sehr schnell Fahrt aufgenommen und setzt sich erst langsam.
Und was ich merke: Ich stehe vor demselben Problem wie schon vor 9 Jahren. Menschen.
Vor 9 Jahren wurde ich - wannimmer ich im Spiel eingeloggt war - angeflüstert, ob ich denn gar keinen Haushalt zu erledigen hätte, wer sich denn um meine Kinder kümmern würde, ob mein Mann wüsste, wie viel ich spiele... ein absolut übergriffiges Verhalten.
Am Abend war ich dann wieder gut genug dafür, Menschen durch Instanzen zu ziehen, ihnen Taschen oder sonstiges zu schenken oder andere Dinge zu tun, während gleichzeitig versucht wurde, hinter meinem Rücken meinen Mann anzugraben und vornerum unschuldig zu tun. Seitenhiebe inklusive.

Das staute sich über Monate hinweg in mir, bis ich dann an einem Tag einfach implodiert bin, alle Spieler aus der Gilde geworfen, einen kurzen Abschiedsbrief verfasst habe, weg war und nie wieder darüber geredet habe. Das hat leider auch die getroffen, die gar nicht so waren. Aber ich konnte einfach nicht mehr.

In der darauffolgenden Zeit musste ich erst wieder lernen, das Spiel zu lieben, das mir so viel bedeutet. Erst als der Stress wegfiel, merkte ich, wie sehr mich der Umgang mit diesen Menschen aufgerieben hat.
Heute ist vieles anders.
Ich bin nicht mehr dieselbe wie vor 9 Jahren.
Ich bin eine Andere.
Und ich kann anders auf diese Dinge reagieren, mit denen ich konfrontiert werde.

Ich spiele, wann und wieviel ich will.
Mein Leben, meine Regeln.
Ich spiele einen Großteil dieses Spiels als Wirtschaftssimulation und bin entsprechend lange auch einfach nur online, um nebenher von Zeit zu Zeit mal ins Auktionshaus zu sehen. Ich muss niemandem darüber Rechenschaft ablegen.
Ich arbeite im Spiel für mein Gold. Ich bin niemandem etwas schuldig. Kein Gold, keine Gegenstände, nichts.
Wer Geschenke erwartet oder neidisch darauf ist, wenn ich jemand anderem etwas schenke, der hat selber ein gewaltiges Problem.
Ich entscheide, für wen ich mein Gold ausgebe, mit wem ich meine Freizeit verbringe, für wen ich etwas tue. 

Ein besonderer Punkt: Freizeit. Es ist meine Freizeit. Auch wenn viele Menschen es nicht glauben oder mir gerne unter die Nase reiben, dass sie im Gegensatz zu mir ja ach so früh aufstehen und arbeiten müssten, es ist meine Freizeit und davon habe ich nicht allzu viel.
Wenn ich im Spiel eingeloggt bin, bin ich darum nicht einfach verfügbar.
Ich möchte genauso gefragt werden wie jeder andere auch.
Wenn ich etwas tue, fühle ich mich nicht verpflichtet, alle Spieler, die online sind, mitzunehmen. Ich bin kein Reiseunternehmen. Ich spiele gerne mit anderen zusammen, aber ich muss mir deswegen weder Seitenhiebe noch blöde Bemerkungen noch passiv aggressive Vorwürfe anhören, wenn sich jemand ausgegrenzt fühlt, nur weil ihm nicht der Hintern hinterhergetragen wird. 

Wir sind alle erwachsen, jeder ist für seinen Spaß selbst verantwortlich.

Jeder spielt anders.
Ich spiele gerne nach dem Leistungsprinzip.
Ich mag auch chillige Runs und wipen ist nicht mein Problem, wenn der Rahmen klar ist.

Wenn ich aber auf der einen Seite nach jedem Kampf gerne warte, bis jeder sein Spielzeug ausgepackt, sein Tier gewechselt, drei Screenshots gemacht und seine Ausrüstung andersrum angezogen hat, dann erwarte ich auf der anderen Seite auch, dass akzeptiert wird, dass ich durchaus abschätzen kann, dass Menschen, die sich weder um Bufffood, Stärkungszauber, Fläschchen Spielmechaniken, Bosstaktiken und Co. kümmern und Instanzen nur als netten Ausflug einer vor sich hinstolpernden Ansammlung von Gelegenheitsspielern betrachten, im Endcontent nichts zu suchen haben, ich ihn aber trotzdem spielen möchte.
Nur dann eben ohne sie.
Die Vorwürfe dazu kann jeder dort stecken lassen, wo sie hingehören.

Es ist wie im wahren Leben: Wer immer nur alles geschenkt bekommen will, ohne auch nur ansatzweise etwas dafür zu tun, der wird unweigerlich enttäuscht werden.

Ich liebe meine Mitspieler und ich schätze ihre Unterschiedlichkeit und auch ihre Andersartigkeit, wenngleich ich viele Verhaltensweisen und Befindlichkeiten auch nicht nachvollziehen kann.
Aber das muss ich ja auch gar nicht.

Respekt reicht in den allermeisten Fällen völlig aus.

Am dicken Fell werde ich auch weiterhin arbeiten, denn es ist mein Spiel und es ist meine geliebte bunte Welt.
Die lasse ich mir kein zweites Mal kaputt machen.

Kati 19.01.2021, 15.00

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Kommentare zu diesem Beitrag

2. von abraxa

Ach du
Ich verstehe dich. Ich weiß zwar nicht was vorgefallen ist, dass du gerade jetzt diesen Artikel schreibst, aber ich sehe und verstehe das absolut. Als Teil deiner herumstolpernden Fraktion ;) freue ich mich immer, wenn ich mitgenommen werde, erwarten würde ich es aber nie. (Und wenn ich weiß, dass mir etwas nicht liegt komme ich einfach nicht mit ;) ) Ich hoffe, dass du das weißt <3 Wenn ich dir mal was gutes tun kann sag Bescheid <3

Ich finde es gut, dass du reflektiert genug bist um das zu sehen was du hier schreibst. Ich bin euch wahnsinnig dankbar, dass ihr diesen "Chat mit Spiel drumrum" wie mein Mann es nennt wieder in mein Leben gebracht habt, und ohne die Chaoten in unserer Gilde hätte ich den Spaß schon lange wieder verloren. Trotzdem ergeben sich, gerade in unserer Gilde, daraus eben keine Verpflichtungen. Und was für uns gilt, gilt für euch genau so *flausch*

vom 22.01.2021, 13.29
1. von Tamara

Das kann ich sehr gut nachvollziehen, ich spiele auch in Azeroth. Allerdings bin ich wohl eine der Spielerinnen, die Dir nicht so liegen, ich spiele immer allein und gehe nur Inis, wenn es sich nicht umgehen lässt, um im Spiel weiterzukommen. Und selbst da hab ich Rückstau, weil ich mich drücke. Und wenn ich es doch mache, bin ich exakt so eine herumstolpernde Dilettantin.. Bufffood und Co. nutze ich selten bis nie.
Ich spiele halt lieber allein, Gilden meide ich wie der Teufel das Weihwasser, weil ich weder Zeit noch Lust hab, irgendjemandes Erwartungen zu erfüllen. So bleiben mir manche Dinge verwehrt, die ein Einzeilspieler nicht wuppen kann, naja, ist dann eben so.
Dafür liebe ich Questreihen, die man allein machen kann.
Wieviel Gildeneinladungen ich abgelehnt habe, kann ich gar nicht mehr zählen...

Jedenfalls gratuliere ich Dir, dass Du Dir das nicht verderben lässt und Deinen Weg so gehst, wie Du es willst.

Liebe Grüße
Tamara

vom 20.01.2021, 17.46
Antwort von Kati:

Oh, im Gegenteil! Ich habe selber sehr lange so gespielt und es auch genossen.
Das war nicht abwertend gemeint.

Es ging nur darum, dass man dann mit dieser Art zu spielen nicht erwarten kann, durch Bereiche des Spiels gezogen zu werden, für die der eigene Spielstil einen disqualifiziert.

Das Spiel ist so groß und so tief, dass dort jeder seinen Platz finden kann.

Und das ist das, was ich daran so schätze.

Liebe Grüße!



Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

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