Der Besuch war nicht geplant und ich hatte nur zwei Tage Zeit, um mich seelisch darauf vorzubereiten und außerdem versuche ich ja mit mäßigem Erfolg, meine Vorurteile abzubauen.
Wir empfangen also einen verurteilten Verbrecher in unserem Haus, samt Kindern und Frau und obwohl ich ihn bereits seit Jahren durch die Verbindung der Kinder „kenne“, habe ich ihn seit seiner Verurteilung nicht mehr gesehen. Ich habe mit mittlerem Interesse die Zeitungsartikel gelesen, als alles aufgeflogen ist, war nicht sehr überrascht, habe mir meinen Teil gedacht und damals auch überlegt, was ich wohl an Stelle seiner Frau tun würde, wenn mir das passieren würde. Wie sie sich entschieden hat, ist klar, denn alle stehen zusammen vor unserem Tor und er ist mir so unsympathisch wie eh und je, daran hat sich nichts geändert, Verbrechen hin oder her.
Absurderweise kann ich mehr Mitgefühl für Affekthandlungen aufbringen, für das systematische Lügen, Erpressen und Bedrohen von Leuten fehlt mir wohl ein Mitgefühl-Gen, keine Ahnung. Über Jahre hinweg in einer bereits von Haus aus privilegierten Situation seine Position auszunutzen, um Beträge in Millionenhöhe zu ergaunern, nein, das kann man nur schwer durch kopflose Entscheidungen schönreden, das ist leider schon Charakter. Und ich glaube, damit hätte ich dann auch meine Entscheidung, wie ich gehandelt hätte, wäre es mein Mann gewesen, aber das habe ich in der Vergangenheit bei anderen Themen auch schon einige Male gedacht und schlussendlich ist es dann immer etwas anderes, wenn man selber in der Situation steckt.
Ich spüre so deutlich wie nie zuvor, dass die Phase meines Lebens, in der ich dachte, dass man für alles und jeden nur genug Verständnis aufbringen müsste, vorbei ist. Ich kann das nicht mehr, ich will das nicht mehr und das Beste: Ich muss das gar nicht.
Natürlich hat jeder Mensch Gründe für sein Handeln, immer.
Aber zur Reifung gehört die Erkenntnis, dass zu diesen Gründen manchmal auch Habgier und andere niedere Charakterzüge gehören