Ausgewählter Beitrag

Vom Hinterlassen

Wer die Lebenden zurücklässt, sollte etwas von sich hinterlassen.
Das können Traditionen sein oder Erinnerungen von Erlebnissen, von Momenten.
Und für mich von besonderer Bedeutung sind die letzten Worte.

Worte, die ein Mensch bewusst für den Fall seines Sterbens hinterlässt.
Worte an geliebte Menschen. Partner, Kinder, Eltern, Freunde.

Als mein Großvater starb, hatte er solche Worte. Für mich.
Als wir alleine waren, in seinem Zimmer, und der Mann mit den drei Kindern schon rausgegangen war, da bekam ich seinen Segen für mein Leben. Seinen Stolz, seine Anerkennung und seine Liebe. Dankbarkeit für mich.
Dieser Moment war so tief, so bewegend, so rund und seelisch so sättigend, dass ich bis heute davon zehren kann.
Ich bewahre die letzte Begegnung wie einen Schatz in meinem Inneren.
Er wusste, dass er stirbt.
Es gibt dieses letzte Foto, auf dem seine Augen mich direkt anblicken.
Fast blauweiß, wissend, voller Liebe.
Ein Abschied.
Er hat sein Leben gelebt, voller Höhen und Tiefen.
Den Krieg nie vergessen.
Als er anfing zu fallen, konnte er alleine mit Oma nicht mehr leben und im Altenheim war es für ihn grauenhaft.
Also formulierte er, dass er das nicht wollen würde, da würde er lieber sterben, als so zu leben.
Und das tat er dann auch 4 Wochen nach seinem Umzug dorthin.
Im Beisein meiner Großmutter an seinem Bett.

Als die Mutter der Zusatzkinder starb, hatte sie davor zweieinhalb Jahre Erkrankung Zeit, ihre Dinge zu regeln.
Und damit meine ich nicht das Chaos und den Berg von Schulden, den sie ihren Kindern hinterlassen hat.
Das sind äußere Umstände. Die Inneren meine ich.
Das, was aus ihr heraus noch hätte weitergegeben werden können.
Sie hat sich dagegen entschieden.
Als sie im Februar ins Hospiz kam, hatte sie noch Zeit für fatale letzte Worte.
Sie hat zwei Monate an ihrer Grabrede gearbeitet, die so voller Bitterkeit war, dass ich immer noch schlucken muss, wenn ich mich an die Worte erinnere.
Kein Wort hat sich an ihre Kinder gerichtet. Keines.
Sie hat ihnen nichts hinterlassen, nichts geschrieben, sich nicht verabschiedet.
Keine Anweisungen für die Zukunft, keine Wünsche für Hochzeiten, Erwachsenwerden, Kinderkriegen, Meilensteine, kein letztes "Ich liebe euch", nichts.
Diese letzten Worte voller Verbitterung und ungelöster Wut und schwärendem Hass sind das letzte, das ihre Kinder irgendwann einmal von ihr lesen werden.
Wir haben Fotos zusammengesucht, entwickeln lassen, versuchen immer noch, ihre Erinnerung aus Erzählungen lebendig zu halten, aber es gelingt nicht gut.
Es ist, als wäre sie nie dagewesen. Die Kinder suchen im Nichts nach Etwas.
Und so verschwimmen ihre Umrisse immer weiter bis zur Grenze des Fassbaren für ihre Kinder.

Als Uroma starb, da ging dem ganzen Sterben ein rapider Verfall voraus. In Absprache mit dem Arzt hat sie sich für das Sterben entschieden.
Erst mehrere Wochen Medikamentenverweigerung, dann Essensverweigerung, dann Flüssigkeitsverweigerung und dann dauerte es noch einmal lange 6 Tage, die wir hier mit dem Tod verbracht haben, bis ihr Herz das letzte Mal schlug.
Und als es absehbar war, da habe ich mir so sehr noch einen Rat gewünscht.
Etwas, das sie mir mit auf den Weg gibt.
Auch meinetwegen ein Fazit aus ihrem Leben, aber da war nur Platz für die Enttäuschung  und verschmähte Liebe für ihren eigenen Sohn, der das letzte Versprechen gebrochen hat, zu ihrem 90. Geburtstag ein letztes Mal in seinem Leben nach Deutschland zu kommen.
Sie antwortete nicht mehr und alles, was wir hörten, war die Sehnsucht nach dem Tod. "Ich will endlich sterben", war alles, was wir über Wochen hörten.
Zum Schluss noch einmal den Namen meines Vaters.
Es war hart und es war für unser Weiterleben nicht gut.
Wir haben sie begleitet, aber sie hat sich von uns, von mir und vom Leben nicht verabschiedet.
Ihr Herz war schon lange gebrochen, als sie schließlich starb.

Als meine Mutter letzten Monat starb, hatte sie zuvor drei Monate Zeit, sich auf ihren Tod vorzubereiten.
Mein Vater schrieb mir, sie hat nichts hinterlassen außer dem Wunsch, dass ich nicht benachrichtigt werden würde.
Die Erinnerung an sie wird immer die bleiben, die ich so sehr fürchten und hassen gelernt habe.

Mein Vater indes regelt seine letzten Angelegenheiten im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich habe ein umfangreiches Regelwerk zugeschickt bekommen, wie ich die Klospülung in einem fremden Haus in einem fremden Land reparieren kann, wenn er stirbt.
Ich bin die Alleinerbin, ich habe mehrere Seiten Kontaktdaten, Übersetzungshilfen und Anweisungen bekommen, wie nach seinem Tod zu verfahren ist.
Das ist jetzt nicht das, was ich mir gewünscht habe.
Da steht nichts Persönliches, nichts Versöhnliches, kein Gefühl, kein Rückblick, nichts.
Nur ein 247-Punkte-Plan, wie ich mit Wasserleitungen im Winter, der Stromabmeldung und seinen Konserven zu verfahren habe.
Welche Erinnerung soll ich daraus mit mir in mein weiteres Leben tragen? Meine Versuche, meinen Vater als Erwachsene kennen- und verstehen zu lernen und damit auch einen anderen Blickwinkel auf meine eigene Kindheit bekommen zu dürfen, sind allesamt gescheitert.

Ich weiß nicht, wer dieser Mensch war.
Und was ihn bewegt hat.

Auf meinem Computer und dessen Sicherungen befinden sich meine letzten Worte an den Mann und die Kinder, sollte ich plötzlich aus dem Leben gerissen werden.
Ich überarbeite sie alle zeitlang und heule dabei Rotz und Wasser.
Es ist wichtig.
Es ist mir so wichtig, dass er sie lesen kann, wenn es mir nicht mehr möglich sein sollte, sie ihm selber zu sagen.

Und als Konsequenz der Ereignisse der letzten Monate habe ich angefangen, meine Tagebücher zu ordnen und lasse sie drucken.
Sie kommen an unseren sicheren Ort, so dass sie erst nach meinem Tod gelesen werden können.
Mein gesamtes Leben, meine Erlebnisse, meine Beweggründe, meine Gedanken. Mich.

Äußerlich haben wir alles geordnet und geregelt.
Wir haben ein ausführliches Testament, wir haben Vormünder bestimmt, Eventualitäten geregelt, einen Nachlassverwalter für die Kinder, sollten sie noch unter 25 sein.

Aber das werden unsere Kinder nicht im Herzen tragen.
Ein echtes Erbe braucht ein Stück eines Selbst, das man weitergeben kann, wenn man diese Erde verlässt.

Kati 02.03.2018, 12.00

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Kommentare zu diesem Beitrag

2. von Heide Schiffer

Wie Recht du hast: es ist nichts so wichtig wie die Lebendigkeit weiter zugeben. Ich weiß wie tröstlich es ist, von einem nahen Menschen ein Andenken zu bekommen, nicht nur ein

vom 02.03.2018, 14.43
1. von Tina

Ich bin, wieder mal, so tief beeindruckt von Dir.
Du scheinst immer zu wissen, was das Richtige ist. Das meine ich aus ganzem Herzen ehrlich.

Ich wünschte, ich könnte nur ein kleines Bißchen sein wie Du...

Vielleicht schaffe ich es ja wenigstens auch etwas für meine Kinder zu hinterlassen.

Danke.

vom 02.03.2018, 13.12


Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

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