"Kind, ich bin soweit, dass ich jetzt sterben kann. Aber das Leben lässt mich ja nicht." Sie seufzt. Ich seufze mit. Was soll ich auch schon sagen?
Oma, ich möchte nicht, dass du stirbst? Wie bescheuert.
Natürlich möchte ich nicht, dass sie stirbt, aber wer bin ich, dass ich mich darüber erhebe, was für sie das Richtige ist?
Das Leben ist für sie nicht mehr lebenswert und das ist ihre ganz persönliche Sache, die ich respektiere. Zu einem selbstbestimmten Leben gehört auch ein selbstbestimmter Tod.
Ja. Leider geht das nicht immer so, wie man sich das vorstellt.
"Meine Nachbarin, die ist ja einfach gesprungen. Natürlich haben sie uns gesagt, es war ein Unfall. Aber wie unbeabsichtigt kann man über ein Geländer klettern und aus dem Fenster springen? Naja, ist auch nicht verkehrt. Aber ne Riesensauerei." Ich muss schmunzeln. Ja, das ist eher nichts für meine Großmutter. Alles, was mit einer Sauerei verbunden ist, scheidet schon mal aus.
"Aber jedesmal wenn ich mich hinlege und mir vornehme, ich sterbe jetzt - was glaubst du, was dann passiert? Genau. Ich wache einfach am nächsten Morgen wieder auf. So ein Schiet." Ich lache laut los.
Wir diskutieren ausführlich über verschiedene Sterbearten und über das Altwerden im Allgemeinen und über ihre grauenhaften Mitbewohner im Heim.
Das Übliche und ich spüre, wie ihre Stimmung sich etwas aufhellt. Sie fragt nach den Kindern.
Ich erzähle aus unserem Alltag und von unseren Problemen und den Fortschritten, die wir machen.
Sie lauscht andächtig, fragt zwischendurch immer wieder nach und ich höre, wie sehr sie Anteil nimmt.
Es ist so furchtbar, dass sie soweit weg wohnt.
Wir haben so viele Möglichkeiten durchdacht, aber wir schaffen es einfach nicht, sie hierhin zu holen.
Ein Heim in der Nähe wäre nicht das Richtige und ein Platz hier zuhause ist kaum realisierbar.
Selbst wenn wir es emotional schaffen würden, was in unserer momentanen Situation auch schon fraglich ist - der Umbau wäre zu umfangreich, um ihn bezahlen oder selbst realisieren zu können. Der mangelnde Platz ist ein weiteres Problem.
Ich seufze erneut. Sie seufzt mit.
"Ach Kind.""Ach Oma.", sage ich und sie summt ein bisschen, wie ich es schon aus Kindertagen von ihr kenne.
Mir tut das Herz weh. Ich weiß, worauf sie wartet.
Sie wartet auf meinen Vater.
Und ich weiß, dass sie vergeblich auf ihn warten wird.