Verwaltungsirrsinn
"Ist der/die Pflegebedürftige orientiert?"
Ich sitze an meinem Schreibtisch an der Seite 4 des Formulars des medizinischen Dienstes, der in Kürze feststellen wird, ob die knapp 90jährige mit Pflegestufe 2, die wir aus dem Altenheim gerettet geholt haben, eventuell nicht plötzlich doch wieder laufen, springen und sich selbst versorgen kann.
Haha.
Der Mann winkt beschwichtigend ab.
"Das müssen die kontrollieren, sonst könnte man ja sonstwas machen."
Achja? Was denn? Sie im Keller anketten und das ach so hohe Pflegegeld kassieren?
Mir fehlt da der Sinn für Humor, um nachvollziehen zu können, warum hier ein bestehender Pflegegrad kontrolliert werden muss.
Zumal es für die Pflegekasse deutlich billiger wird, weil ich ja umsonst arbeite.
Immerhin wird es auf meine Rente angerechnet. Hurra.
Vielleicht komme ich - nachdem ich seit 15 Jahren 6 Kinder großgezogen und eine Großmutter gepflegt habe - ja sogar auf 200 Euro Rente im Monat.
Später, wenn ich alt bin. Hossa, da freue ich mir aber einen Ast.
Mein Lebensmodell rentiert sich für alle, aber nicht für mich.
Zurück zu Frage 27.
Orientiert? Hm.
Als ich sie vor vier Tagen geweckt habe, hat sie Adolf Hitler ein Geburtstagsständchen gesungen.
Ja, sie weiß, welcher Tag da war.
Den Todestag meines Großvaters am Tag zuvor hatte sie vergessen.
Nach dem aktuellen Jahr fragt sie öfter mal, kann mir aber genau sagen, was das amerikanische Staatsoberhaupt für ein Arschloch ist.
Mit genau diesen Worten.
Ich werde entweder mit dem Namen meiner Mutter oder dem Namen meiner ältesten Tochter angesprochen.
Als meine große Tochter letztens ins Zimmer kam, wollte sie für ihre Physiotherapie unbedingt einen blauen Seidenblouson anziehen und fragte meine Tochter, warum sie denn nicht zum Termin gekommen sei.
Gestern hat sie mir eine halbe Stunde etwas von Harald erzählt.
Und was sie mit ihm besprechen möchte, wenn er gleich nach Hause kommt.
Nach ungefähr 20 Minuten habe ich gemerkt, dass sie von meinem Exmann redet, von dem ich seit 10 Jahren geschieden bin.
Ist die Frau orientiert?
Ich kann "Ja" ankreuzen oder "Nein".
Mehr nicht.
Ich verkneife mir gerade noch, beide Antworten durchzustreichen und in Großbuchstaben eine unflätige Bemerkung auf das Formular zu schreiben.
Kaffeekränzchen mit dem Tod
"Kind, vielleicht sterbe ich heute. Ich bin schon seit Tagen so müde und könnte nur noch schlafen."
Ich sehe sie skeptisch an.
"Und Hunger habe ich auch ü-ber-haupt keinen. Nicht mal Appetit."
Ich schiebe die Schale mit Erdbeeren zur Seite und fange an, das Mittagessen abzuräumen.
"Die Erdbeeren nicht. Die lass mir mal für nachher noch da."
Ich grinse in mich hinein. "Und das Sterben?"
Sie blickt irritiert. "Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es gar nicht das Sterben. Vielleicht bin ich ja doch nur müde. Ich bin ja noch nie gestorben, wer weiß schon, wie sich das anfühlt..."
Die Kriegerprinzessin kommt herein und hört ihre letzten Worte. "Stirbst du heute schon?" Sie beißt von ihrem Muffin ab und wartet auf Antwort.
Uroma beäugt den Muffin. "Was isst du da?"
"Einen Kaffeemuffin von Papa, warum?"
Ich ahne schon, was kommt.
"Dann hol mir auch mal einen."
Ich nehme den leergegessenen Teller vom Tablett. "Möchtest du einen Kaffee zu deinem Muffin, Oma?"
"Ach, eigentlich habe ich ja überhaupt keinen Appetit. Aber bevor er mir so trocken im Halse stecken bleibt und ich dann daran sterbe... Das ist ja auch kein schöner Tod."
Als sie mit Kaffee und Kuchen in ihrem Bett sitzt, uns huldvoll herauswedelt weil sie ihre Ruhe haben möchte und wir das Zimmer verlassen, flüstere ich dem kleinen Tochterkind zu: "Ich glaube, heute stirbt Uroma eher nicht."
Sie zwinkert mir zu:
"Naja. Zumindest nicht, so lange wir ihr genug Kaffee und Süßkram bringen..."
Der vorletzte Umzug
Interessiert sehen die älteren Damen mich an, als ich einen Umzugskarton nach dem nächsten aus Uromas Zimmer durch den Flur an ihnen vorbeitrage.
Sie sitzen auf den Sesseln im Empfangsbereich der zweiten Etage und blicken mir wortlos nach, als ich Karton um Karton in den Fahrstuhl trage.
Als ich kurze Zeit später mit den ersten Möbeln auf einem Rollwagen vorbeikomme, fasst sich eine von ihnen ein Herz und spricht mich direkt an.
"Hat sie's endlich geschafft?"
Mit anteilnehmender Miene und gleichzeitig voller Neugierde wartet sie auf meine Antwort.
Ich bin irritiert.
"Hat... was geschafft?", frage ich verwirrt.
Ich bin es ja gewohnt, dass hier andere Regeln für zwischenmenschliche Kommunikation gelten, doch die Dame vor mir macht eigentlich einen geistig recht fitten Eindruck.
"Na, ihre Großmutter. Hat sie es endlich geschafft? Mein Beileid."
Der Groschen fällt.
"Nein.", grinse ich sie an. "Sie zieht nur um. Zu uns nach Hause. Das Heim ist einfach nichts für sie."
Es geht ein kollektives Seufzen durch die Sesselreihen neben mir.
Langsam tätschelt die alte Frau meinen Arm.
"Gott segne sie. Wir würden alle lieber zuhause sterben. Aber unser nächster Umzug ist der zum Friedhof."
Sie lächelt mich traurig an und mein Herz fließt fast über vor lauter Mitgefühl.
Die Sehnsucht nach einem Zuhause wohnt uns allen inne.
Und wenn es ans Sterben geht, dann sollte man an einem Ort Abschied vom Leben nehmen dürfen, der diesen Namen auch verdient.
Als ich wieder in Uromas Zimmer zurückkehre, wo sie mit dem großen Tochterkind bereits die nächste Kiste gepackt hat, blickt sie mich an und lächelt leise.
Ja.
Es war die richtige Entscheidung.
Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.
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