Durchbruch
Nach monatelangem Kampf an beiden Enden der Leine, kiloweise Leckerlies und vielen abrupten Kehrt-, Rechts- und Linkswendungen auf offener Straße, so dass inzwischen die halbe Bevölkerung unseres Städtchens denkt, ich wäre einfach nur bekloppt, haben wir einen Durchbruch erzielt.
Der kleine Braunbär, der eigentlich mal ein Hund werden wollte, hat sein Testosteron soweit beisammen, dass wir fast schon gesittet nebeneinander herlaufen können.
Kopf an meinem Knie, aufmerksamer Blick nach oben zu mir und sofortiges Hinsetzen, sobald ich stehen bleibe.
Da ist ein Knoten geplatzt.
Bislang ging das maximal 5 Minuten am Stück, bitte ohne Ablenkung und wenn eine langhaarige Hündin vorbeikam, war sowieso alles vorbei.
Heute schon der zweite Tag, an dem wir eine halbe Stunde Strecke nonstop so laufen konnten.
Kein Geschnüffel nach rechts und links, kein Totstarren anderer Rüden und Fußgänger hat er heute auch keine gefressen.
Es wird.
[Auch wenn möglichst niemand in seiner Schussbahn stehen sollte, wenn er danach das "Lauf"-Kommando bekommt und loshetzen darf.]
Schall und Rauch
Als ich den Umschlag öffne, steigt mir kalter Zigarettenrauch in die Nase.
Abgestanden.
So wie es bei uns immer roch.
So wie er immer roch.
Entweder nach Bier oder nach Zigaretten.
Ich nehme 20 computerbeschriebene Seiten aus dem Umschlag und fange an zu lesen.
Mit jeder Seite steigt meine Fassungslosigkeit.
Ich setze mich.
"Mama?"
Als ich aufblicke, blicke ich in drei Gesichter, die mich fragend ansehen.
Besorgt.
Ich schüttle den Kopf und stecke die Seiten wieder in den Umschlag.
Später.
Übergang
Meine geliebte Giftbeere hat es nicht leicht dieser Tage.
Die Hormone machen aus der jungen Frau, die einmal mein kleines Baby war, ein unberechenbares aggressives Nervenbündel, das nur allzuleicht von himmelhochjauchzend auf Wolke 7 in die Tiefen aller menschlichen Abgründe wechselt.
Es ist nicht leicht, ihr dabei sowohl eine Schulter zum Anlehnen als auch ein Sparringspartner im Ring zu sein und ich stehe staunend und stolz und wehmütig und besorgt zugleich vor diesem wunderschönen Wesen, das gerade seine Flügel ausbreitet und entweder voller Grazie durch die Lüfte schwebt oder zu nah an der Sonne fliegt und verletzt und verbrannt nach Hause zurückkehrt.
Zarte unschuldige Unsicherheit gepaart mit der überheblichen Arroganz der Jugend, alles tun zu dürfen.
ungeschrieben
Wir schreiben miteinander. Nicht richtig, aber immerhin. Da ist eine Art von Austausch.
Ich weiß nicht, wie es dir geht und ich kann es dich auch nicht fragen.
Es erschiene mir vermessen, dir eine derart persönliche Frage zu stellen.
Sie ist zu intim, zu distanzlos.
Und ich weiß, dass du mir nicht die Wahrheit sagen würdest.
Ich weiß, dass Gefühle in unserer Beziehung keinen Platz haben.
Nie hatten.
Meine größte Errungenschaft als Erwachsene ist es, dir vor drei Jahren ganz klar und offen gesagt zu haben, wie sehr ich dich einmal geliebt habe. Ich habe das losgelassen. Du warst trotz allem mein Vater, auch wenn ich dich nicht so nennen konnte.
Ich sitze hier in meinem Zuhause, das du nicht kennst und höre unserem Lieblingssänger zu. Das heißt - ich weiß nicht, ob es noch Deiner ist. Aber ich erinnere mich an unzählige gewaltlose Stunden, in denen wir die Liebe zur Musik geteilt haben. Diese Erinnerungen sind so kostbar.
Inseln von Licht in einem Leben voller Schatten.
Meine Kinder, die du nicht kennst, sind in der Schule und ich liebe sie alle.
Ich habe ihnen heute Morgen allen gesagt, dass ich sie liebe, so wie jeden Tag.
Wir haben uns umarmt und ich freue mich darauf, sie heute Mittag und Nachmittag wiederzusehen.
Ich lebe ein glückliches Leben mit ihnen.
Mit ihnen und dem Mann, der an meiner Seite geht.
Den du kaum kennst und von dem du damals nur seinen beruflichen Erfolg sehen konntest.
Mit dem Mann, der meiner Seele ein Zuhause gegeben hat.
Vor drei Jahren habe ich dich in unsere Welt eingeladen. Du hast abgelehnt.
Manchmal frage ich mich, ob da irgendwo in deinem Innersten vielleicht noch ein Platz für das Schöne ist.
Für die Liebe.
Die Sehnsucht.
Hoffnung.
Oder ob du von den Menschen so enttäuscht bist, dass sich dieser Platz für immer verhärtet hat.
Vielleicht ist es auch nur die Beziehung zu mir.
Du hast deutliche Worte dafür gefunden, wie enttäuscht du von mir, meinem Lebensentwurf und meinen Entscheidungen bist.
Dass du mich nicht liebst.
Dass nur ganz früher, als ich sehr klein war, überhaupt so etwas wie Zugewandtheit da war.
Ich habe diese Worte gelesen.
Jedes einzelne wie ein Messerstich.
Und doch kann ich deine Ehrlichkeit anerkennen.
In der Welt aus Lügen, die meine Mutter ihr Leben lang um uns herum aufgebaut hat, sind sie eine Wohltat.
Jetzt sind nur noch wir übrig.
Wohin werden wir gehen?
Werden wir überhaupt irgendwohin gehen?
Oder kreuzen sich unsere Lebensbahnen nur noch ein letztes Mal durch den Tod meiner Mutter?
Bis in den Tod
Fassungslos starre ich auf meinen Posteingang. Da. Eine Nachricht von ihm. Ich sperre innerlich mein Kind weg, atme tief durch und klicke auf "öffnen". Ich muss blinzeln, um den Sinn der Worte zu erfassen, die dort stehen. Ja, es ist wahr. Meine Mutter ist gestorben. Nicht plötzlich, nicht überraschend. Sie hatte Zeit. Sie hatte Zeit, sich vorzubereiten. Sie hätte Zeit gehabt... Für... für was? Für eine Versöhnung? Für letzte Worte? Für überhaupt ein Zeichen, dass sie irgendetwas von meinem Schmerz anerkennt? Dass sie nur ein einziges Mal die Verantwortung für den größten Verrat übernimmt, den eine Mutter begehen kann? Ich blinzle Tränen zurück. Das innere Kind spickt über die Mauer. Das soll es nicht.
Ich hatte meinen Vater nicht gefragt, warum er mir nicht Bescheid gesagt hat. Er hat mir zwischen den Zeilen trotzdem geantwortet. Er habe sich bemüht, ihre letzte Wünsche bezüglich der Benachrichtigung über ihren Tod zu erfüllen. Der Geschmack in meinem Mund wird bitter. Hatte ich gehofft? Trotz allem? Auf was? Ich will das nicht.
Hier endet es also.
Die Geschichte ist vorbei.
Fragen an den Tod
Ich habe es getan. Ich habe meinem Vater eine Mail geschrieben. Mit Fragen, die das ungeliebte Kind in mir wissen will. So sehnsüchtig. Ob ich eine Antwort bekomme?
Ich weiß es nicht.
Auf meine Mails von vor drei Jahren, dass ich mir Kontakt zu ihm wünsche, hat er auch reagiert. Zwar nicht so, wie ich mir das gewünscht habe, aber reagiert hat er. Über die Verachtung im Inhalt schweige ich an dieser Stelle. Vielleicht folgt auch diesmal nur Häme. Vielleicht nur eine nüchterne Information. Vielleicht auch gar nichts.
Ich bin gewappnet.
Und muss so nicht irgendwann bereuen, es nicht wenigstens versucht zu haben.
Über sechs Ecken
Ein Anruf am frühen Samstag Abend.
Meine erste Schwiegermutter ist am Apparat.
Ihre Halbschwester hätte sie angerufen.
Ob wir informiert wurden, dass meine Mutter tot ist.
Es hämmert in meinem Kopf.
Sie ist tot. Meine Mutter ist tot.
Ich spüre, wie mein Herz sich weitet.
Ganz leise, ganz groß, ganz hell.
Meine Gedanken sind diffus. Warum? Wann? Wieso?
Sie ist noch viel zu jung zum Sterben.
Ich sehe die verhärmten Gesichtszüge meiner Mutter vor meinem geistigen Auge.
Den Hass, den Ekel und die Verachtung in ihren Augen.
Die Kälte, die in mir so viel zerbrochen hat.
Die Erinnerung wird hinweggeweht.
Einfach so.
Das letzte Mal, das wir sie am Telefon gehört hatten, ist ein halbes Jahr her, als Uroma starb.
Als wir meinen Vater darüber informierten, dass seine Mutter gestorben ist.
Irgendwann Ende Januar sei sie gestorben, höre ich. Das ist nun schon mindestens 14 Tage her.
Ich denke an meinen Vater. Er hat sich anscheinend entschieden, mich nicht zu informieren.
Das ist einerseits völlig nachvollziehbar, auf der anderen Seite.... ein geradezu kindischer Trotz streitet mit meiner Vernunft darum, ob ich ein Recht darauf habe, zu erfahren, ob meine eigene Mutter gestorben ist.
Das ungeliebte Kind fragt sich, ob es in ihren letzten Minuten oder Stunden noch eine Rolle in ihren Gedanken gespielt hat.
War da Sehnsucht?
Oder Reue?
Und würde das Wissen darum irgendetwas ändern?
Konditionierung [selbst schuld]
Ich habe mir meine Gassi-Trainings-Schuhe angezogen und der Hund versteht die Welt nicht mehr.
Wehleidig fiepend steht er unten in der Diele und jammert - zu Halsband, Leine und Geschirr blickend - zum Steinerweichen.
Ich will nur die Kilometer bis zur Schule und damit zur heutigen Theater/Musical-Aufführung der Kriegerprinzessin ohne Unfälle im Neuschnee schaffen - dem Hund allerdings ist es schleierhaft, wieso ich seine Schuhe auch außerhalb von Hundetrainingszeiten anziehen kann.
Folglich weint er nun seit 10 Minuten ununterbrochen abwechselnd die Haustür, seinen Haken und die Treppe an.
Irgendwas muss ja funktionieren...
Und da ich gemein bin, nehme ich mir vor, beim nächsten Training einfach mal meine Lederstiefel zu tragen, um ihn völlig aus dem Konzept zu bringen.
Denn diese Art von Konditionierung finde ich eher unangemessen...
[Völlig erschöpft vom vielen Winseln hat er sich nun mit tiefem Schnaufen aufs Sofa fallen lassen.
Ich mag diese Hundeerziehung ja.
Meistens.]
Dunkle Aussichten
Die Kriegerprinzessin wird dieses Jahr der großen Schwester aufs Gymnasium folgen.
Der jungen und ambitionierten Lehrerin ist das eher nicht recht - und das kommuniziert sie uns gegenüber auch so, weil das Kind in einem für sie äußerst wichtigen Punkt das Kreuzchen nicht auf "herausragend" hat. Sie kann keine Kritik annehmen und damit trifft sie sogar voll ins Schwarze.
Warum sie das bei überdurchschnittlichen Noten als eine der Besten in ihrer Stufe und bei herausragender Intelligenz für das Gymnasium disqualifiziert, weiß wohl nur der liebe Gott.
Gegen die Gymnasialempfehlung kann aber auch die Lehrerin nichts machen und so versucht sie zumindest, der Kriegerprinzessin den Besuch des Gymnasiums so madig wie möglich zu machen.
Nachdem wir nun einige Wochen mit "auf dem Gymnasium habt ihr kaum noch Freizeit" und "da bringt das Lernen keinen Spaß mehr" und "da sind alle Lehrer sehr streng" verbracht haben, gab es nun diese Woche eine Zugabe. Die zukünftigen Gymnasialschüler bekommen nun Hausaufgaben in einem Umfang, dass sie jeden Tag mehrere Stunden beschäftigt sind.
Einige Tage vor der verbindlichen Anmeldung. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Die Kriegerprinzessin sitzt mit zusammengebissenen Zähnen hier und arbeitet sich durch seitenweise Aufgaben.
"Damit ihr schon mal sehen könnt, wie das am Gymnasium wird", sagte die Lehrerin heute.
Ich mustere meine kleine Tochter und sage nichts. Hat im Moment ohnehin keinen Sinn.
Ich spüre ihren Jähzorn. Heiß und brodelnd direkt unter der Oberfläche.
Am Abend steht sie neben der großen Schwester und schweigt lange.
"Was ist los?", fragt das große Tochterkind.
Sie wartet.
Langsam fließen die Gedanken der kleinen Tochter in Worte. "Sag mal... warum machst du eigentlich so gut wie nie Hausaufgaben, wenn du hier zuhause bist?"
Das große Tochterkind ist etwas verdutzt. "Unsere Lehrer legen alle Wert darauf, dass wir im Unterricht fokussiert sind und mitarbeiten. Wir bekommen eigentlich kaum Hausaufgaben."
Ich lächle still in mich hinein, als die Kriegerprinzessin triumphierend "Ha!" macht. "Ich wusste doch, dass da irgendwas dran nicht stimmen kann!"
Heute dürfen wir sie in der nächsten Schule anmelden und ich bin froh, wenn wir auch mit diesem Kind die Grundschule hinter uns haben.
Nur noch ein weiteres Kind, dann haben wir es geschafft.
Lehrstunden
Der kleine Braunbär, der mal ein Hund werden wollte, ist nun über ein Jahr alt und mitten in der Pubertät. Was ich momentan bei vier von sechs Kindern aushalte, werde ich wohl auch beim Hund überleben, aber die Kinder haben ja auch weder Reißzähne noch den unbändigen Drang, jeder langhaarigen Hündin hinterherzurennen...
In weniger umnebelten Momenten klappt das alles schon ganz gut, aber mit Ablenkung wird aus meinem Kuschelkalb plötzlich ein tollwütig umherspringendes schnappendes Monster auf vier Beinen. Ist nicht schön, müssen wir durch.
Hormone sind halt überall kleine Scheißer.
Dafür ist er deutlich lernfähiger als der leicht trottelige Eisbär, den ich früher als Hund hatte und auch solche Sachen wie an der Ampel die Fußgängertaste drücken funktionieren einwandfrei. Einschließlich Publikum aus lauter faszinierend starrenden Schulkindern, die dem Hund mal das Pfötchen schütteln wollen.
Davon hat er immerhin noch keines gefressen...
Die große Frage nach der Kastration treibt mich derzeit um, ich werde mich beizeiten noch einmal mit unserer Tierärztin beraten. Sobald wir einen anderen intakten Rüden treffen, ist jedes Benehmen dahin und sein Gehirn schaltet in den absoluten Dominanzmodus. Da braucht es schon mehr als nur einen Rüffel von meiner Seite bis er sich wieder beruhigt und mit kaputter Halswirbelbandscheibe ist die Kraft, die mich das körperlich kostet, enorm.
Dafür traut er sich inzwischen ohne ängstliches Fiepen in den Hasenstall und springt auch nicht mehr panisch weg, wenn eines der Riesenviecher zu ihm gehoppelt kommt. Trotzdem ist er froh, wenn wir wieder draußen sind.
Katzen sind nach wie vor die schrecklichsten Tiere auf der ganzen Welt.
Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.
woanders:
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