Asche zu Asche

Erde zu Erde.

Asche zu Asche.

Dein Obduktionsbericht ist da. Ich weiß eigentlich gar nicht, ob ich dir heute schreiben will. Meine Nacht war grauenvoll, schwedische Worte mischten sich mit den Bildern, die mein Gehirn malte, wie du deine letzten Momente auf diesem Planeten verbracht hast. Wortfetzen, repetitiv blinkend, grausame Szenen übermalend, bis ich schweißgebadet aufgewacht bin. Zustand nach… Perforation der… 
In einer Woche ist Weihnachten, ich habe Post vom Nachlassgericht, das Erbe ist freigegeben, wir haben eine tief verletzte Seele, um die wir uns gerade kümmern, wir haben Sorge um Tiere, völlige Erschöpfung am Ende eines Jahres, das für mich in weiten Teilen einfach nur horrende Erfahrungen und Reaktivierung alter und im Griff zu haben geglaubter Traumata bereithielt.

Und nun halte ich deinen Obduktionsbericht in Händen, fange an zu lesen, weil ich erwarte, dass eine der Fragen, die mich seit 5 Monaten nachts wachhalten, endlich beantwortet werden kann.
Mehrere Chemikalienflaschen unter dem Stuhl…
Ich sitze hier und bin zum ersten Mal nicht wütend, nicht eingeschüchtert, nicht voller Hass, nicht voller Angst, nicht voller Sehnsucht, nichts von all meinen bekannten Gefühlen für dich.
Gar nichts. 
Nur eines, das ich noch nie bei dir oder für dich empfunden habe: Mitgefühl.
Tüte in der Hand, gefüllt mit…
Da sind sie wieder, die Wortfetzen.
Mein Magen dreht sich.
Nicht aus Ekel, nicht aus Abscheu, nur aus Mitgefühl.
Du warst allein. So verzweifelt.
Und ich hätte so gerne festgehalten an diesem Bild, wie du da sitzt und auf deinen See siehst, deine Heimat, in Frieden…

Wissen kann man nicht zurückgeben.

Hier schließt sich ein Kreis, nicht wahr?
Ich spüre, wie sich mein Herz öffnet.
Das echte Gefühl. 
Da, wo du nie hinkamst. 
Und jetzt musstest du dich erst selber auf solch qualvolle Art töten, damit mein Schutzpanzer einen Riss bekommt?

Weitere Substanzen im Haus...
Niemand sollte so sterben. Niemand.
Nicht in der Humanmedizin zugelassen… 
Ich will mein Bild wieder zurück. Veranda, See, Schaukelstuhl.

Ich habe genug medizinisches Wissen um anhand der Rückstände in deinem Blut erahnen zu können, wie die Minuten sich gezogen haben müssen.

Und es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid, Dad.
Ich wünschte, wir wären uns in einem anderen Leben begegnet.
Ich wäre gerne ein Kind gewesen, das deine eigenen Wunden heilt.

Ich denke, es ist bald an der Zeit, dass wir uns voneinander verabschieden.

Kati 16.12.2022, 08.47| (6/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Vom Leben und Sterben

Drahtseil

„Du gehst seit Monaten nicht ans Telefon, wenn ich anrufe.“

- Ja, ich kann nicht.

„Willst du sprechen oder soll ich einfach weitergehen?“

Es ist zu spät. Ich merke, wie sich die Dunkelheit öffnet.

- Mein Vater hat sich umgebracht.

Suizid, hämmert es in meinem Kopf. Es heißt Suizid. Aber es ist egal. Der einzige Mensch, der so roh und brutal und ungefiltert sagen kann, was er denkt und der mich ohne Kompromisse genauso annehmen kann, steht hier vor mir und ich bin so lange Monate vor ihm weggelaufen, damit ich die Mauern oben lassen kann, dass jetzt nichts mehr geht.

„Wichser.“

Ich nicke. Habe kein Verlangen, ihn zu verteidigen, auf seine Krankheiten und Schmerzen hinzuweisen, zwischen uns ist Platz für brutale Wut und den Hass, den ich mir verbiete.
Ich merke, wie die Maske der Menschlichkeit immer weiter sinkt und sie lockt mich. Wie sie das immer tut. Spüre den Wechsel, der sich ankündigt und weiß wieder, warum wir normalerweise telefonieren. Zuhause kann ich mich fallen lassen, kann abtauchen in die Welt, die nicht meine sein darf. Hier nicht. Verfluche mich selbst, dass ich nicht vorsichtiger war, dass ich ihr in die Arme gelaufen bin.

- Kein gutes Thema.

Sie nickt. Auch sie ist in der Öffentlichkeit und hier werden Grenzen toleriert. Das haben wir gelernt.

„Ich werde wieder anrufen.“

Ich nicke. 

- Und ich weiß nicht, ob ich abnehmen werde.

„Vielleicht nächstes Jahr.“

- Ja. Vielleicht.

Vielleicht. Vielleicht nächstes Jahr wieder.

Kati 21.11.2022, 14.37| (0/0) Kommentare | PL | einsortiert in: Alltag

Von der Angst

Die Angst war lange Jahre die treueste Begleiterin des Kobolds.
Ich schätze, dass er heute darum auch so mutig ist, denn nur wer die Angst kennt, findet den Mut.

Sein schlimmster Feind war ein gleichaltriger Junge, mit dem er eingeschult wurde und von dem er tagein tagaus gepiesackt wurde. Erst war es nur ärgern, dann mobben, dann kam körperliche Gewalt dazu. Und ein Kobold kam jeden Tag weinend aus der Schule und schwor mir, dort nie wieder hinzugehen.
Ich versuchte alles. Wir haben viel über Notwehr gesprochen, aber allein die Vorstellung, jemandem weh zu tun, brach so verzweifelt über dem kleinen Jungen zusammen, dass er nur umso bitterlicher weinte. Einfach nur aufhören sollte es.

Es hörte nicht auf.

Gespräche mit Lehrern, die nichts gesehen hatten, mit Pausenaufsichten, die Dinge sagten wie „Jungs halt“ oder „Dann soll er sich wehren!“ und es änderte nichts.
Es wurde schlimmer und die Angst wurde größer.
Ich brachte den Kobold jeden Tag zur Schule und natürlich passierten diese Dinge nicht, wenn ich dort stand. Also legte ich mich auf die Lauer. Ungesehen, von beiden. Und es dauerte nicht lange. Ein Erstklässler wie ein Bulldozer - doppelt so breit und schwer wie der Kobold - und der seine Masse, seine Kraft und all seine Wut gegen andere Kinder richtete.

Er hielt den Kobold fest, schlug, lachte. Der Kobold weinte und wimmerte und schrie um Hilfe. Und ich sah rot. Ich stürmte auf den Schulhof, an Lehrern vorbei, die Schülermenge teilte sich vor mir, wie ich wutentbrannt auf diesen Jungen zustampfte, bereit, mein Kind zu verteidigen. Ich hörte das Rufen hinter mir kaum, nur noch das Rauschen des Blutes in meinen Ohren.
Er stand mit dem Rücken zu mir, drehte sich irgendwann um, während ich noch auf ihn zukam und ließ den Kobold los. Ich hob mein Kind auf den Arm und stellte mich vor ihn. Meine Stimme war leise. 

Du wirst meinen Sohn nie wieder anfassen! Nie. wieder. Hast du mich verstanden?

Er nickte bleich.

Ich drehte mich um und ging. Holte die Sachen des Kobolds aus der Schule, erklärte den Lehrern, dass ich diesen Vorfall mit allen anwesenden Zeugen und dem Direktor besprechen werde und jetzt mein Kind mit nach Hause nehme.

Im Rahmen der Aufarbeitung dieser Vorfälle habe ich die Eltern des Jungen kennengelernt. In Gesprächen mit der Mutter eine Freundin gefunden und beim ersten Treffen auf ihren Ehemann erkannt, warum der Sohn ein Täter war. Viele Opfer werden im Draußen zu Tätern.

Es sollten noch weitere Jahre vergehen, bis dieser Junge das erste Mal bei uns zu Besuch war. An Wochenenden hier übernachtete. Dem Kobold ein Freund wurde. Ein Echter.
Und je älter die beiden wurden, desto weiter wuchsen sie zusammen. Bis der Krebs kam. Bis Dinge passierten. Bis der Hass in diesem Jungen wieder so groß wurde, dass der Hass irgendwo anders hin musste, um seine Seele nicht zu zerfressen.
Ganz abgerissen ist der Kontakt der Beiden nie. Wie auch. Mein großes Kind ist mit der großen Tochter befreundet, mein kleines Kind einer der besten Freunde ihres kleinen Kindes und die Zweitgeborenen konnten sich nicht aus dem Weg gehen. Nicht vollends. Wenn von 11 Kindern 6 regelmäßig miteinander Dinge unternahmen, dann sieht und trifft man sich nicht nur in der Schule.

Er hat sich über die Jahre einen besonderen Platz in meinem Herzen erkämpft. Von völliger Abneigung zu dem Bedürfnis, ihn zumindest ein Stück weit zu schützen, für den Teil, der in meiner Macht liegt. Und Sympathie. Ja. Da ist Sympathie für diesen kriminellen 2-Meter-Brecher von Jugendlichem, der säuft, raucht, Drogen nimmt und herumrandaliert und innen so klein und wund ist, dass ein Lächeln von mir reicht, um die Maske kurz sinken zu lassen.

Und nun?
Nun ist der einzige Mensch, für den er sich angestrengt hat, sich durchzubeißen, die Schule doch noch in Angriff zu nehmen, sich zu bessern, seine Probleme in den Griff zu bekommen, weg.

Tot. 

Die Angst, die ihn die letzten Jahre fast aufgefressen hat, dass seine Mama ihn verlässt, die erschlägt ihn nun. Er ist alleine mit ihm. Mit dem Vater, der ihn hasst. Alleine mit vier Geschwistern, drei davon jünger.
Um die er sich jetzt alleine kümmern soll. 
Stunden nach ihrem Tod diese Sätze: „Du bist jetzt verantwortlich. Du kümmerst dich jetzt um die Kleinen. Ich muss arbeiten. Das ist jetzt deine Verantwortung. Stell dich nicht an.“

Wie oft habe ich von ihr gehört, sie will nur so lange durchhalten, bis die Kinder alle für sich selber sorgen können. Nur noch diese Jahre.
Das war ihr Mantra in unseren Gesprächen, wenn wieder eine Diagnose dazu kam. Dann mit fortschreitendem Verfall nur noch die Hoffnung, durchzuhalten, bis zumindest dieser Eine volljährig ist, damit er ausziehen kann

Es hat nicht geklappt.

Der Kobold ist da und hört zu.
Versucht, ein Anker zu sein, der ein Angebot bereit hält, wenn alles zu viel ist.

Und ich habe Angst um dieses Kind.
Schon längst nicht mehr um meines.
Sondern jetzt um ihres.

Ich kann nur hoffen, dass er irgendwann erkennt, dass sein Mut fürs Leben nicht mit Mama zusammen gestorben ist, sondern irgendwo unter seiner ganzen Angst noch in ihm darauf wartet, dass er ihn findet.

Kati 08.11.2022, 14.00| (3/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Vom Leben und Sterben

Von der Liebe

Heute vor 11 Jahren wurden wir das letzte Mal Eltern. Allein der Gebutztag ist ein Grund zum Feiern, aber neben all dem Glück über ein ganz besonderes letztes Kind gelten meine Erinnerungen von diesem Morgen vor allem dir.

Du bist mir in Extremsituationen mein Rettungsring, mein Anker, mein Leuchtturm und warst das schon immer. Alles gleichzeitig. Du schaffst es, die ganze Welt um mich herum auszublenden, bis ich durch den Tunnel nur noch mein Ziel im Fokus habe. Gleich ist das Baby da. Du machst das großartig! Du kannst das! Du schaffst das! Noch einmal.

Deine Hände sind die erste Berührung, die all unsere Babys auf dieser Welt Willkommen geheißen haben und dabei hast du nie mich aus dem Blick verloren. Als ich nach dieser letzten Geburt völlig zusammengeklappt bin, da hast du mich und das Baby gehalten. Mit aller Liebe, zu der du fähig bist. Und das ist so unendlich viel mehr, als ich jemals geglaubt hätte, in diesem Leben verdient zu haben. 

Ich lag da mit Gebärmuttervorfall, die Hebamme hatte Sorgen, der Bragi lag an meiner Brust und ich konnte ihn nicht festhalten, weil alles schwarz vor Augen wurde und ich nur noch zitterte.
Also hast du ihn festgehalten, damit er weitertrinken konnte. Und mich gleich mit.
Wie du das immer tust.

Ich fluche so oft über deinen Pragmatismus, aber letzten Endes ist er genau das, was dich ausmacht. Die Zärtlichkeit, die du selbst dann noch aufbringen kannst, wenn der Sturm alles wegzureißen droht, erwächst aus dieser Fähigkeit.

Ich habe mich selten mehr geliebt gefühlt als an diesem Morgen, als ich später da lag, mit all meinen Körperflüssigkeiten beschmiert, völlig fertig und die Hebamme mit dem Waschlappen kam und dich mit dem Baby kurz zur Seite schieben wollte.

Denn du hast mich nur angelächelt, ihr den Waschlappen aus der Hand genommen, das Baby in den Arm gedrückt und mit liebevoller Stimme leise gesagt:

Nein. Das ist meine Aufgabe.

Kati 07.10.2022, 09.05| (6/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Briefe

Erde zu Erde

Die Bilder sind da.
Ein Video sogar.
Lauter Menschen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Sie gehörten nur zu Deinem. Als die Asche verstreut wurde, sagte eine Stimme: „Wir hoffen, dass du jetzt glücklich bist.“ Und das hinterlässt gerade so viel Leere in mir. Glücklich. Dein Leben war am 20. Juli zu Ende. Bist du jetzt glücklich? Bin ich glücklich? Du fehlst mir. Ich hatte so oft das Handy in der Hand, habe gedanklich formuliert, was ich dir schreibe - es ist so viel bei uns passiert. Und da ist jetzt niemand mehr. Keine Großeltern, keine Eltern, keine Geschwister, niemand.

Der Trost wandelt sich manchmal in Einsamkeit. Habe mich in den vergangenen Wochen häufig gefragt, ob es nötig ist, dass auch ich noch gehe. Ob ich überhaupt Ende und Anfang zugleich sein kann oder ob auch ich meinen Platz räumen muss, um die letzten Erinnerungen mitzunehmen. Ich vereine alles auf mir, was niemals weitergegeben werden darf. Ich bin die Letzte, die sich an die Gräueltaten unserer Familie erinnert, welche Berechtigung habe ich, weiterzuleben, wenn ich diese Geschichte beenden will?

Die Tage werden gerade wieder etwas heller, die Schmerzen weichen, aber die Maske sitzt fest wie immer.
In mir tobt der Sturm.

Kati 02.10.2022, 12.24| (2/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Briefe

Agonie

Zu erschöpft. Zu erschöpft für alles.

Vielleicht kann ich irgendwann stolz auf diesen Tag sein, aber momentan ist da nur Müdigkeit und bleierne Schwere. Bin für mich eingestanden, ganz alleine. Habe beim Arzt geweint. Lange. Bitterlich. Habe ausgehalten, ohne in die Vergangenheit zu wechseln, obwohl die Betäubung nicht griff. Nach einer geschlagenen Stunde Kampf um ein bisschen Gnade in Form von Schmerzdämpfung: "Wenn ich gleich merke, dass der Zahn rauskommt, dann ziehe ich weiter, okay? Ich BRAUCHE dafür ihr okay." Das Adrenalin rauscht durch meine Adern und ich höre ihn kaum. Aber ja. Ja. Selbstwirksamkeit. Ich kann das. Ich habe die Wahl. Nur noch die nächste Minute aushalten. Nur 30 Sekunden. Nur 10 Sekunden. So wie ich früher gezählt habe. Nur einmal bis 10 zählen. Und dann nochmal. Nur noch einmal. Und noch einmal. 10 Sekunden kann jeder alles aushalten. Und nochmal. Ein Blut- und Tränenmeer. Heute war mir alles egal.

Der Kiefer schweigt seit 7 Wochen zum ersten Mal.

Kati 15.09.2022, 20.50| (0/0) Kommentare | PL | einsortiert in: out of order

Machthunger

Ich dachte, zumindest den bulimischen Teil meiner Essstörung schon lange Jahrzehnte hinter mir gelassen zu haben. Der elementare Hunger holt das Machtgefühl wieder an die Oberfläche. Ich habe Macht über meinen eigenen Körper. Nicht mal Hunger kann mir etwas anhaben. Eines der elementarsten menschlichen Bedürfnisse überhaupt - das Bedürfnis nach Nahrung - ich stehe sogar darüber. Die Euphorie über die absolute Kontrolle weckt Erinnerungen an andere Zeiten. Mein Magen knurrt und es treibt mich weiter. Ich kann alles kontrollieren, alles lenken, mir kann niemand mehr etwas wegnehmen, wenn ich es mir selbst versage, mir kann niemand weh tun, wenn ich keinen Schmerz zulasse. Ich kenne mich, natürlich. Zu lange, zu gut.

Kati 14.09.2022, 09.56| (0/0) Kommentare | PL | einsortiert in: Gedankenchaos

Das Nadelöhr

8 Wochen sind es morgen, Dad. Wir halten seit 8 Wochen alle Bälle in der Luft. Alle. Und wir können nicht mehr. 
Das Nadelöhr, durch das wir gerade gehen, verspricht in all der Enge mehr Freiheit auf der anderen Seite.
Und trotzdem wache ich morgens auf und weiß nicht, ob ich es noch bis dahin schaffe. Es geriet alles in mir ins Wanken. Ich halte mich nur mühsam aufrecht, kann niemanden ertragen, der zu nahe kommt, stoße die wichtigsten Menschen meines Lebens zurück, weil ich kein Gefühl mehr ertragen kann. Keine Hilfe, keine Liebe, keine Umarmung, kein Zuspruch - ich ertrage es nicht mehr.
Ich bin voll mit Gefühlen und wenn nur noch ein Tropfen hinzukommt, dann berste ich.

Ich merke, wie sehr mir unser Austausch fehlt. Wie oft habe ich schon zum Handy gegriffen, um dir kurz etwas zu schreiben. Da sind immer nur diese beschissenen beiden blauen Haken.
Morgen wird sich das Leben des Kindes drastisch verändern und ich habe Angst. Nackte Angst.
Heute war auch dein Bouppteckning. Ich habe erste Zahlen gesehen und nach dem ein oder anderen Schreck hoffe ich, dass wir da irgendwie gut rausgehen.
Du scheinst deine Versprechen gehalten zu haben. Weitere drei Monate warten, fordert das Gericht.
Drei Monate.
In drei Monaten stehen wir kurz vor Weihnachten.
Der Sohn wird hoffentlich auf die Schmerzen nur noch als Erinnerung zurückblicken. Vielleicht planen wir dann schon die nächste OP für den Kleinen.
Vielleicht bin ich dann einige der Schmerzen wieder los, die mich seit Wochen nicht mehr richtig schlafen oder essen lassen. 
Ich möchte weglaufen. Ganz weit. Kann meinen eigenen Partner kaum noch ertragen, seinen Pragmatismus, seinen Intellekt, seine Vernunft, wenn in mir der Furor tobt.
Wir knallen täglich aneinander, aber es ist keine Reibung mehr, nichts Positives, nur noch Kernschmelze.

Mein Neocortex treibt mich weiter.
Jetzt kein Risiko eingehen. Ich kann das. Immer nur noch einen weiteren Tag. Im Denken bleiben. Nicht die Instinkte übernehmen lassen.
Alle Schutzschilde, alle Skills, alle Mechanismen, alle Strategien müssen 24 Stunden am Tag oben bleiben.
Ich verliere mein ganzes Leben, wenn ich jetzt loslasse. Ich bin hart, unbarmherzig. Gegen mich, gegen andere. Ich bin unfair. Und ich weiß das. Ich will Dankbarkeit für die beiden Menschen empfinden, die mich gerade durch den Alltag peitschen, aber ich kann nicht.

Die Schmerzen - gerade die Zahnschmerzen - nehmen mir die wichtigste Beruhigungsstrategie, die ich jemals hatte: Essen.
Ich habe Hunger.
Schon längst nicht mehr nur nach Nahrung.
Meine Seele verzehrt sich nach Gewalt, nach Blut, nach Sex, nach einem Urknall.

Ich will fallen. Ganz und gar. Will mich der Dunkelheit ergeben und alle Verantwortung loslassen. Will nicht mehr denken müssen, die Maske runterreißen und von jemandem geführt werden, der das Rohe an mir aushalten und lenken kann.

Ich weiß nicht, ob ich zurückkäme.
Ich wurde erschaffen, um die tausend Splitter eines Selbst zusammenzuhalten.
Ich bin das Regulativ.
Was, wenn ich verschwinde?

Ich bin müde.

Kati 13.09.2022, 22.26| (1/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Briefe

Ein letzter Brief.

Liebe Anne.

Vor 12 Jahren schon habe ich dir bei unserer Trennung etwas versprochen.
Niemand nach dir.
Ich wollte nie wieder so tief für jemanden empfinden. Wir haben uns gegenseitig fast zerstört. Wir waren so gleich und haben uns in den Abgrund gespiegelt.

Es war außerhalb meiner Ehe die emotionalste und tiefste Verbindung, die ich je erfahren habe. Ein tiefschwarzer Tanz unserer Seelen miteinander.
Ich möchte keine Sekunde davon missen, die Zeit mit dir hat mich maßgeblich geprägt.
Wir haben es später noch einmal in aller Heimlichkeit miteinander versucht, vorsichtiger und erwachsener diesmal, aber ohne die blutrote Schwärze waren wir nichts.

Nun bist du schon viele Jahre tot und ich habe mich in jeder neuen Freundschaft an mein Versprechen gehalten.
Niemand wird sehen, was du gesehen hast.
Nie wieder. 
Niemand nach dir.

Ich habe es gebrochen.

Da ist jemand, der schleichend Teil meines Lebens wurde. Ich kann dir nicht mal mehr sagen, wann oder wie das angefangen hat.
Nur, dass ich Anfang diesen Jahres plötzlich irgendwo in der Natur stand, fassungslos auf eine Nachricht blickte und es mir wie Schuppen von den Augen fiel, dass das schon lange keine Freundschaft mehr war.

Gefährtin, stand dort.
Und ich hatte es ohne viel Nachdenken geschrieben.

Pause, am anderen Ende. Und ich spürte, wie die Angst hochkroch. Angst, nicht zu reichen. Zuviel zu sein. Zuviel zu wollen. Das hatte ich seit dir nicht mehr.

Aber ich bin anders heute. Ich bin erwachsener geworden.

Und auch wenn ich weiß, dass hier auf der anderen Seite die Dunkelheit lauert - ein Mensch, dem keine Form von Leid fremd ist, der Unsagbares erfahren hat - wir tanzen nicht in den Abgrund. 

Wir tanzen ins Licht.

Ich weiß nicht, ob uns das jemals möglich gewesen wäre.
Vielleicht hatten auch wir unsere Zeit und ich bemühe mich, es so zu betrachten, dass wir damals das waren, was uns möglich war.

Ich hab dich geliebt. Und ich habe dich losgelassen

Machs gut, Anne. Und danke für alles.

Kati 02.09.2022, 09.10| (1/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Briefe

Nachts

Die Dunkelheit ist wieder da und umfängt mich sachte. Hier darf der Hass toben, hier darf ich ungerecht sein. Es scheint, als wäre alles egal, solange ich nur jeden Morgen wieder aufstehe und meinen Pflichten nachkomme. Die in mir nahende Kernschmelze scheint niemand zu bemerken. Und wenn, ist es wohl egal. Ich stehe mit Hass im Herzen auf und gehe damit schlafen. Ich will nicht mehr und ich kann auch nicht mehr. Ich habe furchtbare Schmerzen, ich schlafe nicht, ich wechsle von einem Zustand in den anderen, ich bekomme oft keine drei Gedanken mehr voreinander und mache einfach weiter. Und mit jedem weiteren Schritt wächst der Zorn. Die Verzweiflung. Der Hass. Die Schutzschicht ist nur noch dünn und ich habe Fantasien, die verheerend sind. Kann keine Nähe ertragen, keine Zärtlichkeit, keine Liebe, halte nur noch aus, mit aller Selbstdisziplin die ich habe, bis das Licht schwindet. Nachts darf ich sein. Nachts darf ich ein Stück loslassen und muss doch gleichzeitig so vorsichtig sein. Das Haus schläft. Wir sind mitten im Alltag. Es kümmert sie nicht, was ich nachts tue. Im ersten Licht des Tages sind die Dämonen wieder zahm, lauern einen weiteren Tag in den Schatten bis die Dunkelheit naht. Wenn ich nachts aufbreche, fragt keiner, wer ich bin. Es ist egal. Ich trotze dem Leben ab, was es mir zu geben hat und in Momenten wie diesen weiß ich nicht, ob ich sie damit beschützen oder bestrafen will, weil sie selig in ihren Betten liegen und schlafen dürfen. Ich will das hier gerade alles nicht.
Es passt mir nicht mehr. Ist so eng, dass ich fast ersticke.
Will nur atmen. Schreien. Vor Schmerz. Vor Lust. Vor Wut.

Kati 24.08.2022, 01.43| PL | einsortiert in: Gedankenchaos

Chaos

Die Mauern werden dünner, tiefer, rissiger. Die Trauer ist eine wabernde Masse, die durch mein Herz, mein Hirn, meine Seele wandert, ihre Farbe wechselt. Von tiefschwarz zu wutrot zu leuchtendweiß. Vor ein paar Tagen durchzuckte mich das erste Mal die Angst, jetzt einfach auch zu sterben. So weit gekommen zu sein, nur um dann durch ein Unglück, einen Fehltritt, einen blöden Zufall einfach tot umzukippen. Jedes Rumpeln im Körper, jedes Verschlucken, jedes Husten, jedes Organstolpern - das alles nimmt unverhältnismäßig an Bedeutung zu. Ich miste mein Haus aus, mein Leben, meinen Besitz und - meine Erinnerungen. Vieles davon wird plötzlich nach oben gespült, kommt mit aller Wucht an die Oberfläche, wenn ich etwas in Händen halte, ein Bild betrachte oder einen Geruch wahrnehme. Es ist zu Ehren eines Todes ein Frühjahrsputz der Seele. Oder vielleicht eher Sommer, wenn ich mein Lebensalter so betrachte. Ich bin im tiefsten Winter geboren worden. 10 Tage nach meiner Geburt lag ich in einem dunklen, abgeschlossenen Zimmer. Alle vier Stunden kamen bezahlte Menschen mit einer Milchflasche zu mir, fütterten mich, wickelten mich, sicherten mich und ließen mich wieder allein. Ich habe die Bücher und die Bilder in meinen Erinnerungskisten. Logbücher, wer wann wie lange im Haus war, was er am Kind getan hat. Sechs unterschiedliche Schriften. Keiner blieb länger als nötig. Nicht mal beim Schreiben finde ich heute meinen roten Faden, die Gedanken springen von einem zum nächsten. Muss Unterlagen fertigmachen, die Gefühle in Schach halten, den Alltag bewältigen und möchte doch nur die Zeit anhalten und einfach nur existieren dürfen. Möchte schreien, so laut, dass es die gesamte Menschheit für einen Augenblick verstummen lässt, meine Wut herausbrüllen über die Ungerechtigkeit, die sich mein Leben nennt und fühle gerade so wenig Dankbarkeit für das, was ich habe, wie nur selten. Nehme mir Dinge zu Herzen, die normalerweise an meinem Panzer abprallen würden. Trage nun schon eine Woche Worte mit mir herum, die mir jemand, den ich bis dahin als reflektiert betrachtet habe, in seiner unermesslichen Arroganz selbstgefällig vor den Latz knallte und kann sie nicht abschütteln, auch wenn ich sie psychologisch einordnen kann. Natürlich weiß ich, wie Menschen auf mich reagieren. Natürlich weiß ich, wie ich wirke. Natürlich weiß ich um die Widersprüche, um das, was ich hervorrufen kann. Natürlich… Aber letzten Endes: Ich muss dieses Leben leben. Sonst keiner. Und ich tue das so, wie es mir möglich ist. Das muss niemandem gefallen. Es muss außer mir nicht mal irgendjemand ertragen. Jeder kann sich meiner Geschichte entziehen. Nur ich kann das nicht. Ich muss damit weiterlaufen.

Kati 22.08.2022, 12.57| (3/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Gedankenchaos

Der Köter

Ich habe gestern eine kurze Nachricht bekommen, in der meine Art des Trauerns thematisiert wurde. Hängen geblieben ist ein Satz, nachdem es darum ging, dass ich zugunsten der Funktionalität die emotionale Härte gegen mich selbst wähle:
„Er hat dich gut abgerichtet“.

Unabhängig von der psychologisch destruktiven Botschaft und vom Retraumatisierungspotential dieser Worte sind sie nicht nur verletzend, sondern vor allem auch wahr.

Natürlich hat er mich abgerichtet. Wie einen Hund. Ich kann Kommandos. Ich kann springen. Ich kann dienen. Ich habe Programmierungen, die auch 40 Jahre später noch kicken, wenn die richtigen Knöpfe gedrückt werden. Natürlich. Ich bin der sabbernde Köter, mein Vater war Pawlow.

Also was genau erwartet man von jemandem, der durch diese Hölle gegangen ist?

Normal zu sein?

Ich habe mir unter Einsatz all meiner Fähigkeiten ein Leben aufgebaut, das so normal, stabil und sicher verläuft, wie ein Leben es nur sein kann. Ich habe professionelle Begleitung, Supervision und Therapie gewählt, um meine Programmierungen zu erkennen, zu verstehen und abzuschwächen. Ich werde niemals eins sein. Ich werde immer auf Strategien angewiesen sein, um mich in der Verletzlichkeit zu halten und um ehrlich zu sein: Das kostet mich den Großteil meiner Energie. Hass nährt sich selber. Liebe ist für mich eine Entscheidung. Harte Arbeit, genau das zuzulassen, was mir abtrainiert wurde: Mitgefühl.

Ich muss mich aktiv dafür entscheiden.
Jeden Morgen. Jeden Tag. Bis ans Ende meines Lebens.

Kati 18.08.2022, 08.30| (5/1) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Gedankenchaos

Vier

Vier Wochen. Vier. Das ist doch Irrsinn. Du bist tot, dein Haus ist ein Tatort, ich habe keine Ahnung, wo dein Leichnam inzwischen ist, ich kenne weder Todesursache noch Todeszeitpunkt, ich schwebe im Nichts und wenn ich nicht jeden Tag aufstehe und meinen Alltag abreiße, dann werde ich vermutlich einfach wahnsinnig. Ich kann nichts durchdenken, weil da nichts ist. Alles ist unklar. Ich kann nichts fühlen, weil ich weder jemanden habe, dem ich Fragen stellen könnte noch jemanden, der mir Antworten liefern würde.

Zwischenzeit.
Zwielicht.
In der Seele.

Meine Wut ist da. Sie lauert. Ich merke, wie mich der Dauerschmerz im Kiefer seit dreieinhalb Wochen mürbe macht. Merke, wie nah ich der Grenze komme. Versuche, mit ausreichend Pausen, Schlaf und Rückzug nicht ins Gefühl zu rutschen, nicht zu explodieren, nicht herumzuschreien, nicht zu verzweifeln. Es fände kein Echo. Da ist nichts, was mir antworten würde.

Anhörung Mitte September, dann noch mal vier Wochen Bearbeitung zum endgültigen Termin, dann ist Oktober, dann noch mal Bürokratie, dann vielleicht… wenn alles seinen Gang geht…
Wie soll ich etwas abschließen, von dem mir die losen Enden nicht mal bekannt sind?
Wir können nicht mal dein Scheißadressbuch aus dem Haus holen, um die Leute über deinen Tod zu informieren, bei denen du dir das gewünscht hast.
Nicht mal dein verficktes Adressbuch, verstehst du?
Nein, natürlich nicht. Du bist tot. Irgendwo im Nirgendwo.
Ohne Glauben, ohne Hoffnung, ohne Abschied bist du aus dieser Welt gegangen.

Ich merke, wie ich mit jedem Wort schon wieder wütender werde. Suizid ist ein Menschenrecht. Ich werde das niemals in Frage stellen. Und ich finde gerade alles daran kacke. Alles. Was, wenn Kjell an diesem Tag seine Kinder dabeigehabt hätte? Deine Patenenkel? Was, wenn die Kinder dich gefunden hätten? Was, wenn er erst Tage später gekommen wäre? Du lebst da mit Wildtieren mitten im Wald. Meine Fresse. Ich bin so wütend - auf alles. Auf alles.

Und ich soll jetzt den einzigen Mann anrufen, den du für diesen Schritt um Verzeihung gebeten hast und ich schaffe es einfach nicht. Es frisst mich auf. Ich will meine letzten Worte, ich will meinen Abschiedsbrief, ich will meinen verdammten Abschluss.

Stattdessen spiele ich dein letztes Spiel gegen mich selber in den seelischen Untiefen meiner Vergangenheit.
Ich bin am Ende.
Ganz allumfassend.
Also mache ich das Einzige, das in meinem Leben immer funktioniert hat.
Weiter.

Kati 17.08.2022, 10.21| (1/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Briefe

Happy Birthday

Ich habe dir gestern nicht gratuliert. Du wärst 75 geworden, wenn du dich nicht 16 Tage vor deinem Geburtstag getötet hättest. Ich habe versucht, an dich zu denken. Versuche, in Gedanken eine Rede zu schreiben, wie ich sie auf deiner Beerdigung halten würde, es gelingt mir nicht.
Ich bin die Tage wieder ein bisschen aus meiner Starre aufgewacht, habe wieder angefangen, hier im Haus und im Garten etwas zu tun, mich zu bewegen, etwas zu schaffen. Es ist zäher Morast, der an meinen Schuhen klebt. Ich komme nur mühsam vorwärts.
Meine schönste Erinnerung an dich? Ich versuche, eine zu finden, die ganz ohne Häme, blöde Bemerkungen, Demütigungen oder Alkohol auskommt. Es ist schwer - verdammt schwer - eine zu finden.
Die Stunden auf dem Boot sind vorne mit dabei. Das war Zeit, in der wir frei waren. Im Wald. Nachts, in der Dunkelheit unter Sternenhimmel. Es gibt sie, die schönen Momente, die mich geprägt haben. Gespräche, die bis heute kostbare Erinnerungen formen. Aber sie leuchten nicht hell in mir. 

Was werde ich Positives von dir mit in meine Zukunft nehmen? Dass du ein schwieriger Mensch warst? Dass du manchmal so gnädig warst, Menschen nicht völlig zu vernichten obwohl du das gekonnt hättest? Du hast mich oft stolz angesehen. Beim Ergebnis meiner IQ-Tests. Als mehrere tausend Menschen nach meinen Auftritten aufgestanden sind und applaudiert haben. Bei jeder Urkunde, bei jeder Eins, bei jedem arroganten Schritt nach ganz oben aufs Siegertreppchen. Ich glaube aber, da warst du nicht stolz auf mich. Du warst stolz auf deine Leistung, so jemanden geformt zu haben.

Die Form von zärtlichem Stolz, die man für ein geliebtes Wesen empfindet, einfach weil es ist, weil es existiert und sich treu bleibt - ich weiß nicht, ob du das jemals empfinden konntest.

Ich wünsche dir vielleicht heute einfach, dass du jetzt jenes Glück und jenen Frieden gefunden hast, die dir im Leben versagt blieben.
Happy Birthday, Dad.

Kati 06.08.2022, 23.43| (3/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Briefe

Die ewige Versagerin

Ich hatte versagt. Ich war 13, 14? und hatte im Training auf ganzer Ebene versagt. Mal wieder. Ich habe geweint. Die Tränen liefen mir die Wangen runter und ich hatte mich mehr als einmal zu einem disziplinlosen Keuchen hinreißen lassen. Der Fuß schmerzte immer noch, wo du mir vor Tagen den Zehennagel rausgerissen hattest.

Blickkontakt. Hart bleiben. Entspannen. Schmerz existiert nicht. Schmerz ist nur ein Gedankenkonstrukt. Ich wartete auf den vernichtenden Schlag. Er kam nicht.

Sollte es einer deiner weichen Tage sein? Wir hatten einige davon. Mit Reden, Lachen, Abenteuer. Ich habe dich vergöttert.
Aber es sollte stattdessen eine Lektion folgen.
Ich hatte immer Schwierigkeiten mit dem Gewürgtwerden. War nicht entspannt genug, die Griffe saßen nicht richtig, ich war zu langsam, zu hektisch, zu panisch, zu .. irgendwas. Und dann sagtest du: „Umfass von hinten meinen Hals. Drück zu. Würg mich. Fixier deinen Griff. So wie du es gelernt hast.“

Das war das erste Mal, dass ich etwas üben sollte, bei dem du am Anfang in einer unterlegenen Position sein solltest.
Und das hat mich innerlich so entsetzt, dass ich vor lauter Überraschung einfach Nein sagte.

Der Jähzorn nahm dich sofort mit. Das Gebrüll war infernalisch und ich war so überfordert, dass ich weinend zusammenzuckte.
Das hat dich nur noch wütender gemacht. Meine Mutter kam irgendwann dazu und forderte mich genervt auf, doch einfach zu tun, was du verlangst. Und ich konnte nicht. Da war sie wieder, diese Sperre in mir. Ich konnte einfach nicht.

Luftnot ist meine Nemesis, damals wie heute. Waterboarding, Würgespiele, unter Wasser gedrückt werden, es war immer die größte Herausforderung für mich. Ewiger Versager. Zu hoher Herzschlag, Panik, keine Regulation. Ich kannte die Kritik. Und ausgerechnet dir das Unvorstellbare anzutun, und sei es nur im Spiel - ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht.

Wir brüllten inzwischen alle durcheinander und ich hatte keine Ahnung, wohin das führen würde. Du versuchtest, mich mit Gewalt dazu zu bringen, dich zu würgen und ich hing da an dir wie ein nasser schlaffer weinender Sack und brüllte nur wütend Nein!

Es entbehrt in der Rückschau nicht einer gewissen Komik, dass es ausgerechnet deine eigene Verzweiflung war, die dich immer zorniger hat werden lassen.
Und dann schrie ich aus Leibeskräften die Worte, die alles veränderten. Ich werde dir nicht wehtun, Dad. Ich kann nicht. Ich will nicht.

Die Enttäuschung, die über dein Gesicht zog, werde ich wohl nie vergessen. Es war der Moment, in dem du alle Hoffnung, die du jemals in mich gesetzt hast, aufgegeben hast. Kein Elitekämpfer. Kein Übermensch. Keine perfekt nach deinen Vorstellungen geformte und beliebig programmierbare neue Menschenklasse. Wir hatten beide versagt. Es war der Moment, der für dich wohl den Tiefpunkt deiner Vaterschaft darstellte.

20 Jahre später haben wir uns ausgetauscht und du hast dir immer verbeten, über „emotionalen Mist“ aus meiner Kindheit sprechen zu müssen.

Das Einzige, was du mir geschrieben hast, war, dass du mich einige Jahre geliebt hättest. Dass du große Erwartungen in mich gesetzt hattest. Und dass ich und meine Fehlentscheidungen eine solche Enttäuschung für dich waren, dass du nicht anders konntest, als dich von mir abzuwenden.

Vielleicht konnte mir nichts Besseres passieren.

Kati 06.08.2022, 14.44| (4/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Briefe

14 Tage

Vor 14 Tagen brannte der Wald, stürmte es mitten in der Nacht, setzte irgendwann der Regen ein. Alles bei weit über 35 Grad.
Kurz vor Mitternacht entschied ich, nackt in den Pool zu gehen, fühlte mich eins mit dieser Welt und ihrem Chaos. Die Bären rannten durch den Garten, immer wieder Sirenen im Hintergrund. 

Plötzlich veränderte sich Ludwigs Haltung. Er zeigte an, dass irgendetwas überhaupt nicht in Ordnung war. Direkt danach eskalierten alle drei Hunde. Der Mann ging zum Tor, wo drei uniformierte Menschen in der Dunkelheit standen. Mir war schlagartig eiskalt. Ich stieg aus dem Wasser, warf mir ein Handtuch über, brachte die Bären ins Haus und ging selber wieder nach draußen.

Es goss inzwischen in Strömen. 
Ich wusste bereits, wer dort stand und was sie wollten.

3 Beamte der Kriminalpolizei betraten unseren Garten. „Wollen wir vielleicht hineingehen?“

Nein, sagte ich. Ich denke nicht, dass das eine gute Idee wäre.

„Sind Sie die Tochter von…?“ „Lebt Ihr Vater in Schweden?“ „Wir… also ….“

Er hat sich selbst getötet, nicht wahr? Wann haben Sie ihn gefunden? 
In der Dunkelheit konnte ich die Erleichterung nicht sehen, sehr wohl aber in ihren Stimmen hören, als sie weitersprachen. Es wechselten einige Dokumente die Seiten, der Mann nahm alles an sich und schützte es vor dem Regen. Die dringende Bitte, am nächsten Tag bitte sofort in Stockholm anzurufen.

Es war kurz und schmerzlos. 
Ich weiß seit meiner Kindheit, dass dieser Tag irgendwann kommen würde und sein Gesundheitszustand war mir ebenfalls bekannt.
Der Mann legte die Dokumente von mir ungelesen in die Diele und ich ließ die Hunde wieder raus.
Das würde alles bis morgen warten können. 

Ich ließ mich ins kalte Wasser gleiten und tauchte unter.

Allein. Letzte. Überlebt.

Kati 04.08.2022, 14.14| (4/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Gedankenchaos

Übrig.

Ich versuche das mit dem Schlafen. Wirklich.
Es gelingt mir nicht.
Meine Gedanken kreisen nicht mal, sie stolpern wild durcheinander, fallen über den jeweils nächsten, bleiben liegen, stehen irgendwann wieder auf, taumeln haltlos herum, schweigen, brüllen, verstummen wieder.

Ich kann nicht mehr.
Ich bin müde.
Ich bin erschöpft.
Ich kann nicht mehr.
Ich will Antworten, die wenigen, die ich vielleicht noch bekommen kann. Muss Geduld haben. Warten.

Die Gefühle sind eingeschlossen, sicher hinter den Gittern meiner Selbstbeherrschung, bis die Eingabemaske offen ist und der Cursor blinkt. Dann gleicht es einem Erdrutsch und mit den Worten kommen die Tränen, kommt der Schmerz, kommt die Verzweiflung. Tief, grenzenlos, bodenlos. Es reißt mir den Boden unter den Füßen weg und will mich verschlingen. Da ist so viel. So viel Gefühl, so viel Wut, so viel Trauer.

Und der eine Gedanke, noch so winzig, hell pulsierend, da ganz hinten in der Dunkelheit.
Ich habe es geschafft.
Ich bin als Einzige übrig.
Ich habe überlebt.
Ich habe sie alle überlebt.
Alle. Restlos. Ich bin übrig.

Ich habe es tatsächlich geschafft, mich all dem entgegenzustemmen, was mich so nachhaltig hat zersplittern lassen. So lange. Bis heute. Ich habe nichts davon an meine Kinder weitergegeben, ich habe nie die Hand erhoben, ich habe mich nie der sadistischen Grausamkeit hingegeben, die so verlockend in mir ruft.
Nicht ein einziges Mal.

Es ist zuende.
Ich bin die Letzte.

Ich bin der Anfang.

Kati 27.07.2022, 19.19| (6/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Gedankenchaos

Tag3

Hej Dad. Tag3? Tag3.
Ein weiterer Umschlag also.
Für mich.
Kein aktueller.
Einer, der schon vor Jahren deponiert wurde.
Du hast eine treue Gefolgschaft um dich geschart, ich habe nichts anderes erwartet.

Sie werden schweigen, wenn ich nicht genau das tue, was du wolltest, nicht wahr? Ich kann alles haben oder gar nichts. Aber nur nach deinen Regeln. Du würdest lieber alles zerstören als zuzulassen, eine Situation nicht mehr unter Kontrolle halten zu können. Aber soll ich dir was sagen?

Du bist tot. Du spielst das Spiel nicht mehr. Und ich - ich kann mich entscheiden, ob ich das will oder nicht. Ich bin schon lange nicht mehr finanziell von dir abhängig, ich habe ein vollkommen abgesichertes Leben und deine Gier nach Reichtum ist mir fremd.
Alles, was ich noch erreichen will, werde ich auch ohne dein Erbe tun und das war immer mein Maßstab.
Ich weiß, wo dein Geld herkommt.
Ich weiß, wie schmutzig unser Erbe ist.
Seit Generationen.
Ich will es nicht.

Wir hatten den Deal, dass du den Menschen, die dir dort in Schweden etwas bedeuten, zu deinen Lebzeiten ermöglichst, ein sicheres Leben zu führen.
Sie wissen nichts von unserer Vergangenheit und sie haben dich erst als alten Mann kennengelernt, der in der Lage ist, so etwas wie Gefühle zu empfinden, nicht als den Psychopathen, der du eigentlich bist.
Ich weiß nicht, ob das Alter dich wirklich weicher gemacht hat. Ich will daran glauben.
Ich will daran glauben, dass die letzten 4 Jahre Austausch mit mir nach dem Tod meiner Mutter etwas verändert haben.
Du hast dein Haus verschenkt. Dein Grundstück. Deinen Wald. Deinen See.
Ich weiß nicht, ob meine Ablehnung all dessen dir wehgetan hat.
Ob all das vielleicht sogar eine verquere Art von Strafe war, damit ich in anderer Hinsicht zur Besinnung komme.

Die Familie, in deren Eigentum dein Besitz jetzt übergehen wird, lebt schon dort.
Sie wird deine Wahlheimat mehr zu schätzen wissen als ich.
So sehr ich dein Land liebe - mein Zuhause ist hier.

Der Umschlag… Ich werde persönlich mit einem deiner Freunde reden müssen, wenn ich erfahren will, was es damit auf sich hat.
Ich werde eine Nacht darüber schlafen.
Denn ich habe Zeit.

Kati 24.07.2022, 23.45| (0/0) Kommentare | PL | einsortiert in: Briefe

Tag1

Ich weiß nicht, wie es mir heute geht, Dad. Ich weiß auch nicht, ob dich das interessieren würde. Die Briefe… sie treiben mich um. Wie viele gibt es? An wen? Ich habe heute den Inhalt des Einen, des dir anscheinend Wichtigsten erfahren. Und darin befindet sich so viel Liebe, so viel Gefühl. Nicht für mich. Für diesen Menschen. Eine Entschuldigung. Eine gottverdammte Entschuldigung. So viel Schmerz. Ich versuche, nicht in Selbstmitleid zu versinken und trotzdem kreist das Kind in mir um deine Liebe, deine Anerkennung, den Funken des Erkennens, dass ich in den letzten Minuten deines Lebens irgendeine Rolle gespielt habe. Dass es einen Unterschied gemacht hat, dass es mich in deinem Leben gegeben hat. Ich weiß nicht, ob ich darauf eine Antwort bekomme. Trauer ist eine egoistische Angelegenheit. Ich muss meine Schilde sehr hoch halten, um durch diese Tage zu kommen. Ich bin erschöpft, ich bin ratlos. Die Tränen laufen ab und zu einfach über mein Gesicht und ich weiß nicht, was es ist. Bemitleide ich mich selbst? Was ist noch Kind, was ist echte erwachsene Trauer? Es kommt von so tief unten, dass ich Angst habe, es freizugeben. Ich fühle diesen unbändigen Schmerz, der alles verzehrt, mit dem er in Berührung kommt. Er darf nicht nach oben, ich halte das nicht aus. Nicht jetzt, nicht hier. Noch nicht.

Kati 23.07.2022, 03.37| (0/0) Kommentare | PL | einsortiert in: Briefe

Nachts

Ich will keine Zärtlichkeit.
Ich will kein Vorspiel.
Ich will dich benutzen.
Will deinen Körper an meinem spüren.
Will Gewalt, Härte, das lodernd brennende Gefühl, noch am Leben zu sein.
Noch zu atmen, noch zu fühlen, wie das Adrenalin durch meine Adern und die Lust durch meinen Körper pumpt.

Ich bin lebendig. Ich bin nicht tot.

Du bist Kryptonit für meine Mauern und ich muss sie heute oben halten.
Meine Seele ist roh und wund und brüllt vor Schmerzen.
Ich brauche dich in der Dunkelheit, ohne Kompromisse, ohne Mitleid, ohne Rücksicht.

Ich bin noch am Leben.
Als Letzte.
Als Einzige.

Ich bin der Anfang.

Kati 23.07.2022, 03.23| (0/0) Kommentare | PL | einsortiert in: Gedankenchaos

Tag0

Briefe also, hm? Ich höre die Namen, die auf den Briefen stehen. Verschlossene Umschläge. Mit letzten Worten, vermutlich. Noch hat keiner seinen geöffnet.
Habe ich auch einen Brief? Oder steht irgendetwas an mich in deinem Abschiedsbrief, der nun bei der Polizei liegt und als Beweismittel gilt? Irgendetwas?

Ich werde mich noch gedulden müssen und habe keine Ahnung, wovor ich mich mehr fürchte: Vor dem, was du mir als Letztes in deinem Leben mitteilen wolltest oder davor, dass es nichts gibt, das diese Kriterien erfüllen würde.

Hast du an mich gedacht? Hast du mir in Gedanken Lebewohl gesagt? Oder sogar in geschriebenen Worten? Gibt es ein Machs gut, ein Pass auf die Kinder auf, ein Ich bin stolz auf dich, ein Ich liebe dich oder vielleicht sogar ein Verzeih mir?

Bei einem so lange im Voraus und bis in alle Einzelheiten geplanten Tod gibt es keine verpassten Chancen
Wie gehen wir beide hier raus, wenn wir fertig sind?

Kati 21.07.2022, 13.00| (0/0) Kommentare | PL | einsortiert in: Briefe

Hej Dad

Ich weiß, dass du meine letzte Nachricht noch gelesen hast. Die beiden blauen Haken haben dich verraten.

Um Mitternacht klingelte hier die Kriminalpolizei. Und ja, natürlich wusste ich, was sie mir sagen würden. Es ist vielleicht nicht so ganz das Gespräch geworden, das sie erwartet haben.

Und jetzt kann ich seit 5 Stunden nicht schlafen.
Weil ich wütend bin.
Ich bin so stinksauer auf dich, dass ich statt mit Tränen der Trauer mit Tränen der Wut und Ohnmacht hier sitze.
Ich weiß, dass das nichts ändert.
Ich werde bei Sonnenaufgang meine Rüstung anlegen und wir bringen Anwälte, Dolmetscher und Notare in Stellung.

Ich habe einen Menschen an meiner Seite, der sich vor mich stellen wird, als Schild, als Fels, als Sandsack, als Umarmung, ich werde da durchkommen, irgendwie.

Aber weißt du was? Du und ich. Wir waren noch nicht fertig miteinander. Ich war noch nicht bereit. Du hast das alleine entschieden. Und ich bin so unfassbar wütend.

Kati 21.07.2022, 05.00| (8/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Briefe

Meine geliebte Kriegerin.

Du bist eine Naturgewalt.
Für dich gibt es keine Zwischentöne, keine Abstufungen.
Es gibt schwarz und weiß.
Laut und leise.
Alles oder nichts.
Das ist das, was dich ausmacht.
Du bist ein Mensch, der für Superlative erschaffen wurde und lernst gerade erst, mit deinem enormen Potential im Guten wie im Schlechten umzugehen.

Ich habe von dir geträumt, als ich dich noch unter dem Herzen trug.
Ich habe dein Gesicht gesehen – wie es heute aussieht.
Ich habe dich erkannt.
Ich habe die riesengroße Amazone einen Berg hinunterstürmen sehen, mit einem durchtrainierten muskulösen Körper, langen flammenroten Haaren, das Schwert erhoben, bereit zum Kampf und mit gleichzeitig unbändiger Lebensfreude, dass ich aufgewacht bin und deinen Namen kannte.
Da war kein Platz mehr für Zweifel.
Das warst du und nichts anderes würde dir gerecht werden können.
Du trägst den Namen eines ganzen schottischen Kriegerclans und dein Zweitname bedeutet narbenfarben.
Den dritten Namen teilst du dir mit all deinen Geschwistern und ich hoffe, dass euer Band euch später tragen wird, wenn wir nicht mehr sind.

Als meine Wehen stärker wurden, mitten in der Nacht, hörte man immer lauter werdendes Grollen in der Ferne. Das aufziehende Gewitter ließ die Natur im Takt meiner Wehen aufbrüllen.
Der Kreißsaal war dunkel, die Fenster weit geöffnet, der Regen peitschte auf die Erde  - und Blitz, Donner, Sturm und die feste, leise Stimme deines Vaters trieben mich voran.
Immer mit dem Schmerz, jede Wehe ein Ja zu dir, ein Ja zum Leben. Du kannst das, du schaffst das, gleich ist unser Baby da, dazu das Trommeln des Regens auf dem Dach, die kurzen Lichtblitze und das gewaltige Getöse des Donners.

Du bist mitten in den Sturm geboren worden und es hätte keinen passenderen Empfang für dich auf dieser Welt geben können.

Du warst immer schon ein Dickkopf, du hast nie gefragt, du hast dir genommen. Die Welt gehörte dir, von Anfang an. Das tut sie heute noch, auch wenn du gerade strauchelst.
Du spürst die Dunkelheit und weißt kaum, wie du sie bewältigen sollst. Gemessen an dem Licht, das du in dir trägst, muss sie gigantisch sein.
Ich fühle, dass du weder das Eine noch das Andere gerade tragen willst.

Wir sind an deiner Seite. Wir gehen mit dir, wir tragen dich, wenn du nicht mehr kannst, sind wir da. Es fällt dir gerade schwer, das Leben als Geschenk zu sehen und ich versuche, mich von diesem Schmerz nicht zerreißen zu lassen.
Bemühe mich, die Wunden, die du schlägst, nicht als Angriff zu sehen sondern als Verteidigung zu verstehen.

Ich glaube, dass Transformation immer schmerzhaft ist.
Und wenn wir in ein paar Jahren zurückblicken, dann hoffe ich, dass wir lächeln und verstehen, warum das so sein musste.

Ich liebe dich. Immer.

Kati 03.06.2022, 08.00| (1/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Briefe

Heute

Heute vor 17 Jahren haben wir uns unter klarem Sternenhimmel das erste Mal gesehen, das erste Mal berührt, das erste Mal geküsst.

Heute vor 16 Jahren hielten wir unseren ersten Sohn in den Armen, den ich in deine Hände geboren habe.

Heute vor 15 Jahren haben wir geheiratet.

Heute vor 14 Jahren trug ich schwer an unserer zweiten Tochter, die in einigen Tagen zur Welt kommen würde. Die Gedanken an ein eventuell weiteres totes Kind überschatteten alles.

Heute vor 13 Jahren hatte ich dich beim schwersten Gang meines Lebens an meiner Seite, als ich die Urne meines Großvaters über den Friedhof trug.

Heute vor 12 Jahren haben wir beschlossen, dass wir es nach all den weiteren Fehlgeburten nicht weiter versuchen würden. Wir waren komplett mit zwei gemeinsamen lebenden Kindern.

Heute vor 11 Jahren trug ich einen kleinen Menschen unter meinem Herzen, den unsere Pläne nicht interessiert haben.

Heute vor 10 Jahren hatten wir die schlimmsten Monate der schwärzesten Depression meines Lebens nach der Geburt vom Butz fast hinter uns. Es war wieder so etwas wie Licht zu erkennen.

Heute vor 9 Jahren waren wir endlich in unserem echten Zuhause angekommen. Ein Haus mit Garten, ein Rückzugsort, perfekt, nur für uns. Unsere Burg.

Heute vor 8 Jahren begannen die dunkelsten Jahre unserer Beziehung. Wir haben aufs Schmerzhafteste all unsere Werte auf den Prüfstand gestellt und sind durch ein tiefes Tal geschritten, in dem sich Wahrheit, Schmerz und Hoffnung blind auf die Liebe verlassen mussten, die uns getragen hat.

Heute vor 6 Jahren standen wir mitten in den Vorbereitungen, zwei völlig entfremdete und hasserfüllte Kinder in unseren Haushalt aufzunehmen.

Heute vor 5 Jahren bestand unsere Familie aus 9 Personen – wir hatten Uroma aus dem Pflegeheim zu uns nach Hause geholt, um die letzten Monate für sie in Würde gestalten zu können.

Heute vor 4 Jahren begann das Lügenkonstrukt des zweiten Kindes über uns zusammenzubrechen.

Heute vor 3 Jahren haben wir Asgard abgeholt. Als Zeichen der Hoffnung, als Trost, als Begleitung aus der Trauer über den Verlust meines großen Kindes.

Heute vor 2 Jahren haben wir die letzten Dinge in die Wege geleitet, um unser Familienleben wieder so zu gestalten, wie das für uns gut ist.

Heute vor einem Jahr haben wir nach unendlich langer Durststrecke das erste Mal auch finanziell wieder Luft holen dürfen. Freiheit spüren.

Heute sind es 17 Jahre. Das ist viel Zeit. Wir haben jede Emotion durchlebt, wir sind jeden Weg gemeinsam gegangen, wir haben jeden Streit ausgefochten und wir sind an einem Punkt, an dem wir keine Masken mehr tragen müssen und das auch schon lange nicht mehr wollen.
Du hast mir gezeigt, was Liebe tragen, aber auch erdulden kann.
Du hast mir gezeigt, wie hoch man fliegen kann, wenn es jemanden gibt, der Zuspruch schenkt.

Du machst, dass ich jeden Morgen aufwache und ein besserer Mensch sein will als am Tag zuvor.
Ich bewundere deine Intelligenz, deine Stoik, deinen Pragmatismus, deine Seelenruhe, deinen Humor und ich bete deinen Körper an. 
Du bist auch 17 Jahre nach der ersten Berührung noch ein Satyr, der mir ohne jedes Tabu jede Form von Freude schenkt, die ich empfinden kann. 

Mein dunkler Engel. Gefallen, wiederauferstanden. 
Die Wahrheit, die wir uns zumuten, ist absolut. 
Ich würde nie wieder anders leben wollen als so. Mit dir.

Ich liebe dich.

Kati 30.05.2022, 12.00| (1/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Briefe

Die Schießbude.

Wir waren noch nicht sehr lange zusammen, da bummelten der große hübsche Mann und ich über eine Festwiese.
Fahrgeschäfte, Imbissstände, Spielbuden wohin man sah.
Und ich betete und hoffte inständig, dass der Status unserer Beziehung, der noch zu einem großen Teil aus Werben und Beeindrucken bestand, trotzdem nicht dazu führen würde, auch in dieser Beziehung den Supergau erleben zu müssen:

Die Schießbude.

Wir schlenderten also so umher und kamen an einigen Schießbuden vorbei und nach jeder konnte ich etwas weiter aufatmen. Gottseidank...
Mit Grausen erinnerte ich mich an die Male, die ich im strömenden Regen neben irgendeinem wütenden Mann stand, der verzweifelt versuchte, ein Schaf, einen Stern oder sonstwas abzuschießen.
Das eine Mal, das ich noch Geld leihen musste, um weitere Schüsse zu finanzieren, damit ich auch das bekomme, was ich mir ausgesucht hatte.Es hat nie geklappt.

"Die ist total verzogen." "Die schießt nicht richtig" "Was ist denn das für ein billiges Ding" - ich kenne alle Ausreden, denn ich habe sie alle schon gehört.
Dabei bin ich nie sonderlich scharf drauf gewesen, an so einem Stand zu stehen.
Aber es scheint ein Männergen zu geben, dass Männer beim Anblick von Waffen, Plüschtieren und weiblicher Begleitung dazu animiert, auf kleine Plaketten schießen zu wollen.
"Such dir was aus, ich schieß es dir!" ist definitiv mein meistgehasster Satz in einer Beziehung.

Einmal sind wir als vier Pärchen auf einen Rummel gegangen und mein Freund war der Einzige, der exakt nichts getroffen hatte.
Er bekam dann eine dieser zerfledderten Plastikrosen, die er mir auch noch überreichen wollte.
Ich zog eine Augenbraue hoch und er ließ sie in den nächsten Mülleimer fallen. Die Beziehung dauerte nicht mehr allzulange.
Im Grunde hätte es vielleicht ein Omen sein können, dass der Soldat an meiner Seite, der mit markigen Sprüchen gegenüber Schießbudenbesitzer und mir, dass er schon ganz andere Dinge erschossen hätte, keine einzige Plakette traf.
400 nachgekaufte Schüsse später war mir kalt, meine Laune im Keller und ich nahm das erste Mal in meinem Leben mit einem gequälten Lächeln 27 Plastikrosen, die ich zuhause entsorgte und sagte: "Das war ziemlich beeindruckend, Hase."

Ich hätt den Mann vielleicht nicht auch noch heiraten sollen.
Übrigens war die Waffe schuld. Natürlich.

Der Mann davor war ein sehr bekannter Kickboxer, der so ziemlich alles und jeden traf und bei dem ich mir relativ sicher war, dass er auch den rosa Plüschelefanten bekommen würde, den ich mir aussuchen sollte.
Er hatte mehrere Tage danach Erektionsprobleme und auch als ich irgendwann mit ihm Schluss machte, steckten die Plastikrosen vom Desaster noch hinter dem einen Bild, wo er sie nach meiner Ablehnung untergebracht hatte.
Ich war 18 und es war eine völlig neue Erfahrung, einen Mann wegen einer Plastikrose weinen zu sehen.
Ohne dass ich es wollte, hatten sich Schießbuden für mich zu einer Art Beziehungsindikator entwickelt.
Ablehnen führte meistens zu einem handfesten Streit, weil die Männer da irgendwie borniert sind oder zu dem noch fordernderem Drängen, mir doch bitte irgendein großes Plüschtier auszusuchen.

Also akzeptierte ich diesen seltsamen Teil meines Lebens, ohne ihn zu befürworten.
Kurzum: ich hatte ein Trauma.

Beim großen hübschen Mann war es mir wichtig, dass es gar nicht so weit kommen würde.
Und so hatten wir das Ende des Rummels auch schon erreicht und ich dankte Gott, dem Himmel, allem, was ich so hatte, dass dieser Kelch an mir - uns - vorüberging.
Überlegte, ob ich noch einen kandierten Apfel mit auf den Heimweg nehme und wartete auf den allerletzten Stand, der meines Wissens nach ein Süßwarenstand war.

War er nicht.
Es war eine Schießbude.

"Süße?"
Ich überlegte, eine Ohnmacht, einen Wadenkrampf oder etwas anderes Lebensbedrohliches vorzutäuschen, antwortete mit einem vorsichtigen: "Hm?"
Er beugte sich zu meinem Ohr und flüsterte:
"Such dir mal was aus, ich schieß es dir."

Ich rang mit mir selbst und der Teufel gewann.
Alles oder nichts.

Ich verdrehte also innerlich die Augen und warf einen Blick auf die Hauptgewinne. Der größte war ein riesiges unglaublich hässliches Opossum-Plüschtier aus IceAge2. Das Vieh war über einen Meter lang und das Grässlichste, das ich jemals gesehen hatte.
"Den da bitte.", fügte ich mich in mein Schicksal lehnte mich an einen Pfosten.
"Wieviel Schuss möchten Sie haben?", fragte der Verkäufer den Mann und ich warf ein sehr spöttisches 'Na, ein Schuss wird ja wohl reichen...' zwischen die Männer.

Der Mann zog die Augenbraue hoch und sagte: "Ein Schuss wird reichen, meint die Lady."

Ich überlegte derweil, wie man möglichst echt einen Schwächeanfall simuliert, um ihm die Blamage zu ersparen.
Man musste ja auch nur so ein hüpfendes kreiselndes Dingsda treffen, das ab und an auch noch verschwand.
Der Mann richtete sich zu seiner vollen Körpergröße von fast 2 Metern auf und spannte sich. Ich war beeindruckt ob dieses Anblickes, auch wenn ich noch drüber nachdachte, ihn anzurempeln, um die Schuld auf mich zu ziehen.

Aber ich fügte mich in mein Schicksal und schloss die Augen.
Es klickte und ich hielt die Augen krampfhaft geschlossen.
Nicht diese Beziehung auch noch.

Als ich mich entschieden hatte, die Plastikrose einfach anzunehmen und lieb zu lächeln, öffnete ich die Augen und blickte in eine riesige und unglaublich hässliche Opossumschnauze.
Blaue Augen blitzten mich an und das attraktive Männergesicht vor mir lächelte süffisant.

"Das ist ein ziemlich hässliches Ding, das du dir da ausgesucht hast...", grinste er, drückte es mir in den Arm und nahm meine Hand, um weiterzugehen.

Kati 07.04.2022, 12.00| (2/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Gedankenchaos

Elf Tage

Ich habe es geträumt.
Elf Tage sind vergangen, seit ein fremder Mensch aus dem Internet mein echtes Leben betrat und in meinem Vorgarten stand und Fotos von mir, meinem Garten und meiner Burg machen wollte.
Elf Tage, seit ich rausging, ihn bat, vom Grundstück zu gehen und dabei keine Fotos von mir zu machen.
Elf Tage, seit mich ein Schlag an der Schläfe traf und mir die Lichter ausgingen.
Elf Tage Alltag, zwanghaftes Schilde hochhalten, strukturierter Alltag um jeden Preis.
Nicht in die Dunkelheit sinken, nicht dem Schwarz und auf gar keinen Fall dem Rot nachgeben.
Nicht dem Rot, das so verlockend buhlt.
Das tut es immer und es ist seitdem jeden Tag angeschwollen, verführerischer, attraktiver geworden.

Ich habe es geträumt. Es war nicht diese Situation, natürlich nicht. Ich ging auf der Straße, als mich jemand überraschend ans Bein trat. Keine große Sache. Bisschen schmerzhaft. Unverschämt, respektlos, aber im Grunde keine große Sache. Und Sekunden später sah ich nur noch die kurze Eisenstange in meiner Hand. Und ich schlug. Ich schlug und bei meinem Gott, ich genoss jeden einzelnen Schlag davon. Jedes Geräusch, jeden Bluttropfen, jedes Knochenknirschen, jedes Fitzelchen, das in mein Gesicht spritzte. Ich schlug wie von Sinnen und das warme und so weiche Gefühl von früher war da und umfing mich. JA, flüstert es mit einer Inbrunst und einer Intensität, die mich in rote Wolken hüllt und zuhause willkommen heißt.

Blutrausch.
Die absolute Lust an Gewalt.
Das Gefühl, das keinen Vergleich kennt.
Nicht einmal Wollust.
Nur der rote Rausch alles vernichtender Gewalt.

Ich bin schweißgebadet in meinem Heute aufgewacht, habe mich eingesperrt und hangele mich nun von Buchstabe zu Buchstabe, um meinen Neocortex oben zu halten.
Alles, was ich formulieren kann, müssen meine Instinkte nicht regeln.

Mein Leben ist schon so lange Jahre frei von dieser Form von Gewalt und trotzdem bleibt es ein tief verankerter Teil meines Ursprungsselbst.
Als ich aufhörte, Opfer zu sein, wurde ich Täter.
Ich verfüge seit meiner Säuglingszeit über eine unendliche Palette an Erfahrungswerten, was mir wie angetan wurde und was über Jahrzehnte am schmerzhaftesten auszuhalten war und diese Lektion sitzt.
Ich bin ein Monster, das sich jeden Tag bis zur völligen Erschöpfung bemüht, ein Leben zu führen, das niemanden dem ausliefert, was ich ertragen musste.

Und nun ist seit elf Tagen diese Mauer, die nur aus einem zwei Jahrzehnte alten Schwur und meiner Selbstdisziplin besteht, auf eine dünne Decke zusammengeschrumpft, die nichts mehr verbirgt sondern nur noch unzureichend bedeckt. Der Drang, jemandem wehzutun, ist übermächtig, sobald ich meine Schilde sinken lasse.

Mein stärkster Schild heißt Verletzlichkeit.
Solange ich zulassen kann, dass ich verletzlich bleibe, sind meine stärksten Wächter aktiv, die den Zugang zu dem bewachen, zu dem ich imstande bin.

Seit elf Tagen zürnen sie.

Kati 03.04.2022, 17.00| (10/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Gedankenchaos



Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

woanders:







Einträge ges.: 381
ø pro Tag: 0,1
Kommentare: 450
ø pro Eintrag: 1,2
Online seit dem: 21.04.2016
in Tagen: 3167

Do what is right. Not what is easy.
you want. It doesn't matter anyway.