Das Märchen vom dicken Kater von Nele Mai

Es war einmal - denn schließlich fangen alle guten Märchen so an - nun, es war einmal in einem nicht ganz so weit entfernten Land ein dicker Kater. Der war groß und stattlich und lebte in einem Schloss nahe am Fluss. Dort war er der Herr über viele Länder.

Der dicke Kater war ein meisterlicher Jäger, der besonders unter den Ratten, welche das Land vielfach bevölkerten, sehr gefürchtet war. Sie nannten ihn den Rattenschreck und erzählten sich gar schauerliche Geschichten über ihn. Schon den kleinen Rattenbabys wurde beigebracht, brav zu sein, damit sie der Rattenschreck nicht holte. Die frechsten Ratten - so hieß es - wurden vom Rattenschreck gejagt, verletzt und dann in den Burggraben geworfen, wo sie unter Qualen um ihre Leben strampelten und schließlich jämmerlich ertranken. Natürlich gab es auch im Volk der Ratten ein paar, welche den Geschichten keinen Glauben schenkten. Vor allem unter den jugendlichen Ratten war es eine beliebte Mutprobe, sich des Nachts hinauf zum Schloss zu schleichen und dem Rattenschreck eine lange Nase zu drehen. Sie kamen nie zurück, denn der dicke Kater erwischte sie alle. Dann weinte die ganze Rattensippe um die verlorenen Kinder und Wehklagen über die unbelehrbare Jugend schallte vom Fluss hervor.

Es kam der Tag, da hatte die Königin der Ratten genug. "Es sind zu viele Tote in unseren Reihen, wir müssen dem Kater eine Lektion erteilen" sprach sie zu ihrem Volk. Schreckensschreie hallten durch die Reihen der Ratten. Den Rattenschreck stellen? Der schon so viele der ihren getötet hatte? Wie sollten sie das anstellen? Doch die Königin beruhigte ihr Volk und erklärte den Ratten ihren Plan. "Wie wir wissen, lebt der Rattenschreck nicht allein in seinem Schloss. Er hat zwei Hunde bei sich aufgenommen, einen weißen und einen braunen. Vor dem braunen müssen wir uns in Acht nehmen, denn er ist Inspektor auf dem Anwesen des Katers und passt auf, dass niemand ins Schloss
hineingelangt. Der weiße ist nicht weiter wichtig, er ist der Hofnarr dort und leicht zu überlisten." Eine fette alte Ratte stützte sich auf ihren Gehstock und wiegte den Kopf hin und her. Sie war die Älteste in der Rattensippe und ein wichtiger Berater der Königin. "Mit Verlaub, Majestät, selbst wenn wir genügend Waffen hätten, um den Rattenschreck zu verletzen, wie sollen wir am Wachhund vorbei in das Schloss bekommen? Allein das Betreten des Landes gestaltet sich als nahezu unmöglich, denn wenn wir uns dem Anwesen des Katers nur auf fünf Schwanzlängen nähern, tötet er uns alle!"
Die Rattenkönigin lachte gewitzt. "Du bist sehr weise und ich danke dir für deine Weitsicht. Aber ich habe lange darüber nachgedacht und einen Plan entworfen, der es uns erlaubt, den Kater und alle Bewohner des Schlosses genauestens zu studieren. Ich werde eine der unseren in einen Welpen verwandeln! Der Wachhund hat eine Schwäche für Babys aller Art. Ich selbst habe einmal gesehen, wie er ein Hasenbaby nur abgeleckt statt gefressen hat. Und da der Rattenschreck sich offenbar gern mit Hunden umgibt und sie demütigt, wird er
einem Welpen gegenüber nicht abgeneigt sein. So wird es uns gelingen, seine Gewohnheiten noch besser kennenzulernen." Ein Raunen ging durch das Rattenvolk und sie sahen, dass der Plan listig und klug war. Doch wo würde sich eine Ratte finden, die wagemutig genug war, sich auf das Schloss des Katers zu schleichen? "Ruft alle Ratten des Landes zusammen" sprach die Königin. "In drei Tagen werden wir ein Turnier veranstalten, um die klügste und stärkste Ratte unter uns zu küren. Nur dieser Ratte wird die Ehre zuteil, von mir verwandelt zu werden. Sie soll ein Held in unseren Reihen sein und auf ewig werden wir Lieder über sie singen."

Und so geschah es. Alle Ratten versammelten sich zum großen Turnier. Mannigfaltige Aufgaben galt es zu bewältigen und die Königin hatte an alles gedacht. Geistige und körperliche Kräfte wurden gemessen und auch die kleinsten und jüngsten unter ihnen bekamen ihre Chance. Es war ein lustiges Treiben am Fluss, die Ratten rollten sich zu Kugeln zusammen, um zu sehen, wer die kleinste sei, sie kämpften gegeneinander, quetschen sich durch die kleinsten Löcher und forderten sogar die Biber zum Baumstammwerfen heraus.
Nach drei Tagen stand der Sieger fest. Eine kleine schwarze Ratte trat vor die Königin und trippelte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Die Königin sah die kleine Ratte gütig an. "Du hast dich als klug und gewitzt erwiesen. Wie du einen Hebel eingesetzt hast, um den Baumstamm zu bewegen, hat mich besonders beeindruckt. Es kommt nicht immer auf körperliche Stärke an, dass hast du eindrucksvoll gezeigt. Nun knie nieder und erwarte deine Verwandlung, auf dass wir den Rattenschreck für immer loswerden!" Atemlose Stille legte sich über den Turnierplatz. Die Königin hob ihre Arme und sah fest auf die kleine Ratte vor ihr. Nebel kam auf und der Himmel wurde schwarz. Ein Blitz zuckte vom Himmel und schlug knapp vor der Ratte in den Boden. Für einen Moment wurde alles dunkel. Die Dunkelheit strömte auf die Ratte ein und als der Nebel vergangen war, hockte im Kreis des Rattenvolkes ein kleiner, pechschwarzer Hund. "Erhebt euch, Sir Rattelot!" sprach die Königin der Ratten feierlich. Jubel erscholl über dem Turnierplatz, als der schwarze Welpe sich erhob und fröhlich nach ihrem Schwanz schnappte. Ein großes Festmahl wurde aufgetragen und die Ratten feierten bis tief in die Nacht hinein.

Sir Rattelot aber trabte mutig auf das Schloss zu und begehrte Einlass. Geduldig ließ sie die Schnüffelei des Inspektors über sich ergehen. Dieser war so begeistert davon, erneut ein Baby zu betreuen, dass ihm die ungewöhnlich spitze Schnauze und der etwas haarlose Schwanz des Welpen nicht weiter auffielen. Er brachte das Hundebaby zum dicken Kater, damit über sein Schicksal entschieden werden konnte. Der Kater aber war nicht so leicht zu
überzeugen wie sein Wachhund. Er duldete nur nützliche Wesen in seinem Schloss und was sollte an einem Hundebaby schon nützlich sein? Er schlich um den Welpen herum und beäugte ihn von allen Seiten. Sir Rattelot musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um nicht zu zittern. Nie hatte sie bisher dem Rattenschreck gegenübergestanden. Sie betrachtete den dicken Kater ganz genau. So dick, wie sie ihn sich vorgestellt hatte, war er gar nicht. Majestätisch war eine bessere Beschreibung. Wie der Kater so um sie herumschlich, konnte Sir Rattelot das Muskelspiel unter dem dichten graubraunen Fell beobachten. Die hellen gelbgrünen Augen blickten die Ratte unverwandt an, die mit dichtem Fellbüscheln versehenen Ohren zuckten wachsam. Instinktiv senkte die Ratte den Blick. Nur die Illusion, ein Welpe zu sein, rettete ihr Leben, das war Sir Rattelot klar. "Wen haben wir denn hier?" Die Stimme des Katers war tief und das sanfte Schnurren konnte nicht über die Gefährlichkeit des Tieres hinwegtäuschen. Als sei Stahl mit Seide bezogen worden, um ein Schwert harmlos aussehen zu lassen, zuckte es Sir Rattelot durch den Kopf. Der braune Wachhund neben ihm räusperte sich. "Sie stand vor der Tür und bellte. Ich werde sie zu einer guten Rattenfängerin ausbilden, Herr. Nicht so gut wie ihr, natürlich." Der Inspektor schluckte. "Niemand ist so gut im Rattenfang wie ihr, Herr." Geschmeichelt sah der Kater seinen Wachhund an. "Du weißt immer genau, was du sagen musst, nicht wahr? Nun gut. Du kannst sie haben. Aber bilde sie gut aus. Du hast drei Monde, wenn sie mir bis dahin nicht ihre erste Ratte gebracht hat, muss sie gehen." Gelangweilt wandte der Kater seinen Blick ab. "Wo ist Trottelgard? Mich dürstet nach Abwechslung." Der Rattenschreck lächelte maliziös. "Mal sehen, was er von der kleinen Ratte hält, die du angeschleppt hast." Sir Rattelot zuckte zusammen. Hatte der Kater ihr Spiel durchschaut? Warum sonst hätte er sie kleine Ratte nennen sollen? Doch ehe sie weiter grübeln konnte, betrat ein weißer Hund den Raum. Als er Sir Rattelot gewahr ward, blieb er wie angewurzelt stehen. Unsicher blickte er von einem zum anderen. Ein Jaulen erscholl durch den Raum, so jämmerlich, wie es Sir Rattelot noch nie gehört hatte. Selbst die Totenklagen des Rattenvolkes waren
hoffnungsvoller als das. "Beruhige dich, Hofnarr" fauchte der Kater. "Der Inspektor hat nur ein neues Spielzeug bekommen, das ist alles." Der weiße Hund schien nicht überzeugt, aber er stellte sein Jaulen ein und winselte nur noch leise. "Schon besser." Mit diesen Worten verließ der Rattenschreck den Raum.

Kaum war der Kater außer Sicht, richtete sich der weiße Hund auf. Anklagend fiel sein Blick auf den Inspektor. "Warum? Warum schleppst du dieses Ding hier an? Wir hatten doch alles, was wir brauchen. Schutz, Sicherheit, Ruhe. Solange es dem Kater gut geht, geht es uns gut. Also sag mir, Inspektor, warum brauchen wir SIE hier?" Sir Rattelot staunte. So selbstsicher kannte sie den Hofnarren gar nicht. Sollte etwa auch er nur eine Scharade spielen? Sie nahm sich vor, die Königin zu warnen. "Das verstehst du nicht, Trottelgard. Sie ist ein Baby und um Babys kümmert man sich. So, wie ich mich auch um dich gekümmert habe. Komm Kleine." Der Inspektor nickte Sir Rattelot zu. "Ich zeig dir alles." "Das nimmt kein gutes Ende, ich spüre es, Inspektor." Doch der Inspektor ließ sich nicht beirren und führte Sir Rattelot aus dem Raum. Hinter ihnen erklang das Jaulen des weißen Hundes von Neuem.

Die Tage vergingen und Sir Rattelot lebte sich ein. Der Kater beachtete sie nicht weiter, der Inspektor verwöhnte sie mit Leckereien und der Hofnarr - nun, er war eben der Hofnarr und saß für gewöhnlich weinend in irgendeiner Kiste, wenn sie an ihm vorbei ging. Sir Rattelot lernte, ihn zu ignorieren und so lebten sie mehr oder weniger friedlich im Schloss zusammen. Der dicke Kater ging noch immer jede Nacht zur Jagd. Manchmal kam es vor, dass Sir Rattelot des Morgens Überreste ihres Volkes im Burggraben fand. Anfangs trauerte sie noch um die Ratten, doch immer öfter zuckte sie mit den Schultern. Je weiter der Mond voranschritt, desto mehr vergaß Sir Rattelot ihren Ursprung. Die Rattenkönigin war weise und klug, doch leider hatte sie ein wichtiges Detail ihres Zaubers übersehen: er musste binnen eines Mondumlaufes wieder aufgelöst werden, sonst wurde die Verwandlung endgültig.

Als ein Monat vorbei gegangen war, hörten die Nachrichten Sir Rattelots an die Königin auf. Immer noch hatten die Ratten Tote zu beklagen. Die Königin machte sich große Sorgen und schickte ihren klügsten Söldner, um nachzusehen, wie es Sir Rattelot gehe. "Mumpitz" rief sie den Anführer ihrer Spatzentruppe. "Flieg zum Schloss und schau nach, was Sir Rattelot dort treibt. Ich bekomme keine Nachrichten mehr und das beunruhigt mich. Flieg schnell und pass auf, dass dich niemand sieht!" Mumpitz nickte und flog so schnell er konnte rauf zum Schloss. Was er dort sah, erfüllte ihn mit Entsetzen. Sir Rattelot fischte gerade die Überreste einer Ratte aus dem Burggraben und verschlang sie mit einem Bissen. Dann bellte sie fröhlich und rannte auf den Wachhund zu, welcher ihr zärtlich den Kopf leckte. Mumpitz hatte genug gesehen. So schnell ihn seine Flügel trugen, flog er zurück zu Rattenkönigin. "Euer Plan ist gescheitert, Majestät. Sir Rattelot ist verloren, sie hat sich in einen echten Hund verwandelt." Die Königin schäumte vor Wut. Sie stürmte in ihre Gemächer und zog ein dickes schwarzes Buch hervor, welches mit eisernen Ketten umwickelt war. "Genug!" rief sie immer wieder fieberhaft. "Genug Tote, genug Verrat, genug von allem! Dir werde ich es zeigen, Rattenschreck! Ich habe dich einmal besiegt, ich kann es wieder tun!" Mumpitz verstand nicht, was die Königin meinte, aber wie sie so dastand mit ihrem gesträubten Fell und den zuckenden Schnurrhaaren würde er sich hüten, nachzufragen. "Verloren" murmelte er. "Sie sind alle verloren." Er zog sich den Ring vom Fuß und quittierte den Dienst. Ein kluger Söldner weiß, wann es Zeit ist, zu gehen. Später heuerte Mumpitz bei einer Eulentruppe an und wurde ein gefeierter Held, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

Die Rattenkönigin jedoch suchte in ihrem Zauberbuch nach dem schwärzesten Zauber, den sie finden konnte. Sie wusste, er würde sie ihr Leben kosten, aber alle Magie hat ihren Preis und sie war so besessen von dem Gedanken an Rache, dass sie nicht an die Konsequenzen dachte. Sie hob die Arme, murmelte einen kompliziert anmutenden Spruch in einer Sprache, die längst vergessen geglaubt war und verwandelte sich in eine mächtige Sturmfront. Sie verdunkelte den Himmel, ließ die mächtigsten Bäume schwanken und die Mauern des Schlosses erzittern. Und zum ersten Mal in seinem Leben spürte der dicke Kater, dass er draußen nicht sicher war. Zum ersten Mal in der Geschichte seiner Regentschaft blieb der dicke Kater in seinem Schloss. Er war wütend darüber und fauchte und spuckte, aber er hing nun einmal am letzten seiner neun Leben und spürte, dass es aus mit ihm sei, wenn er sich dem Sturm stellte. Am Morgen jedoch tobte der Sturm noch immer über dem Schloss. Die
Ratten feierten, denn sie hatten zum ersten Mal in der Geschichte ihres Volkes keine nächtlichen Verluste zu beklagen. Der dicke Kater aber saß hinter dicken Mauern gefangen und lauschte den Freudengesängen, die vom Fluss zu ihm hinauf tönten und sich mit dem leisen Winseln Trottelgards mischten. Und wenn er nicht gestorben ist, dann sitzt er noch immer fauchend da.


Ein herzliches Dankeschön an die Autorin Nele Mai!

Nele ist eine der bemerkenswertesten Frauen, die ich kenne und freut sich mit zwei sehr charakterstarken Kindern im Alltag über jeden Kaffee.



Kati 20.02.2022, 08.00| (4/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in:



Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

woanders:







Einträge ges.: 381
ø pro Tag: 0,1
Kommentare: 450
ø pro Eintrag: 1,2
Online seit dem: 21.04.2016
in Tagen: 3167

Do what is right. Not what is easy.
you want. It doesn't matter anyway.