Mein geliebter dunkler Engel.

Wir befinden uns zwischen den Jahren und leben und lieben uns intensiv durch diese Tage.

Volljährig, habe ich im Mai geschrieben und das damals noch so naiv anders gemeint als ich es heute fühle. Wer hätte gedacht, dass wir uns schon jetzt auf diese schwindelerregende Fahrt begeben würden?

Ich nicht. Ich habe wenn überhaupt, erst sehr viel später damit gerechnet.
Wir sind hart aneinander geprallt die letzten Monate. Ich streife gerade die letzten Reste des Harmoniebedürfnisses meiner fruchtbaren Jahre ab und wandle mich nicht nur äußerlich, sondern vor allem innerlich zum Kern dessen, was mich ausmacht.

Wir sind längst nicht mehr so sehr daran gebunden, dass nur mein Operating System im Alltag oben ist. Die Kinder sind selbständig und schon verdammt groß und das erlaubt mir mehr Freiheiten, mich in Gänze entfalten zu können. Ich weiß, wie schwierig das für dich mitunter ist. Ich weiß, wie hart ich dich mit dir selber konfrontiere. Der Spiegel, den du mir in aller Liebe in den letzten Jahren so oft vorgehalten hast, damit ich mich weiterentwickeln und finden kann, ruht nun in meinen Händen.

Wann immer ich dieser Tage auf deinen Rücken sehe - den schwarzen gefallenen Engel betrachtend, der demütig und trotzdem unbeugsam dort kniet - verschwimmt das Motiv mit dem Träger. Du hast wieder begonnen zu schreiben. Du hast dein Mitleid für dich selber überwunden. Du stellst dich mir, jeder Konfrontation, jedem Gespräch, jedem Schmerz.
Vor allem dem Schmerz. Ich kenne keinen Menschen, der weniger zurückweichen würde als du es tust, wenn es unangenehm wird.
Du hältst die Wahrheit aus, die wir uns geschworen haben. Immer.

Ich weiß, dass du nicht gut schläfst. Ich kenne die Gedanken, die dich umtreiben. Ich kenne die Zweifel. Und ich weiß, dass ich oft grausam bin. Du willst nicht geschont werden. Und das tue ich nicht.

Ich bete dafür, dass wir eine Balance finden. Seit wir aus der Schwärze unserer Beziehung wieder ans Licht geschwommen sind, arbeiten wir Tag um Tag daran, ein besseres Ganzes zu sein als nur zwei Hälften, die zusammengefügt wurden. 10 Jahre sind es nächstes Jahr und wir sind in diesem Prozess weiter gelaufen als ich jemals für möglich hielt. Du hast mich so oft getragen, wenn ich nicht mehr weiterwollte. Wenn ich keinen Sinn mehr gesehen habe in all dem Kampf gegen mich selbst, die Schuldgefühle, die Last, die auf uns und unserer Erinnerung liegt.

Unsere Beziehung war nie leicht.
Nie unbeschwert, nie frei von großer und schwerer Verantwortung.
Der Wandel, den wir die letzten Monate erlebt haben, wäre vor 5, 10, 15 Jahren nie möglich gewesen.

Es ist wie es ist.
Es bringt nichts, das Was wäre gewesen wenn Spiel zu spielen.
Wir sind jetzt an dem Punkt, an den uns die gesamte Beziehungsarbeit der letzten 18 Jahre getragen hat. Jedes Gespräch, jeder Streit, jede Zärtlichkeit, jede Berührung, alle Liebe hat uns hierhin geführt. Und wir sind bereit für den nächsten Schritt. Ich weiß das und ich glaube an uns, mehr denn je.
Ich liebe dich jeden Tag ein bisschen mehr als gestern und ich würde jeden Tag schwören, dass ich dich nicht mehr lieben könnte als genau heute.

Die große Diagnose, die für dich im Raum steht, treibt dich um. Mir schenkt sie Frieden. Die Jahre, die seit dem ersten Verdacht vergangen sind, haben in mir einen Prozess in Gang gesetzt, der mich mit vielem versöhnt. Ich sehe dich in unseren Kindern, die ich anders auf ein Leben vorbereiten kann, in dem der Großteil der Menschheit nicht ihre Sprache spricht. Ich versuche ihnen mehr Werkzeug in die Hände zu legen als es deinen Eltern für dich möglich war. Ich möchte nicht, dass sie das Potential ihres ebenfalls überragenden Intellekts nur dafür nutzen müssen, zu funktionieren wie ihre Umgebung das von ihnen erwartet. Dir wurde so viel Unrecht getan. Auch von mir. Gerade von mir. Das tut mir unendlich leid, ohne dass ich wüsste, wie ich es hätte anders machen können.

Es ist wie es ist.

Es wird wie es sein soll.

Kati 27.12.2023, 12.00| (0/0) Kommentare | PL | einsortiert in: Briefe

Das vollendete Bild

Etwas fehlte noch. Ich konnte es nicht greifen, aber das Puzzle war noch nicht fertig.
Es klaffte eine Lücke mitten im Bild.

Und als ich mit den Kleinen auf dem Weg zum sehr großen Kind im Auto saß und nach hunderten von Kilometern den charakteristischen Berg hinauffuhr, hinter dem sich die Abfahrt zu dem Heimatort meiner Jugend befand, traf ich eine Entscheidung.

Wie unendlich vertraut die Straßen waren, die Gebäude, alles. Mein Spiegel auf dem Beifahrersitz fragte besorgt, ob alles in Ordnung sei, kaum dass wir den ersten Ort durchquerten. Ich antwortete nicht. Die kurvige Strecke durch die Weinberge, so viele prägnante Orte, so viele Erinnerungen, die mich überschwemmten, ich konnte einfach nichts sagen. Als wir auf die Straße fuhren, die direkt zu meinem Elternhaus führen würde, schnürte sich meine Kehle zu. Ich schaffe das nicht!, hämmerte es in meinem Kopf. Weiter! skandierte es synchron.
Bauch vor Kopf, immer. Aber da war nur noch ein Klumpen aus Angst und Panik und dem unausweichlichen Drang, etwas zu beenden, das ich schon zu lange vor mir hergeschoben habe.

Vor 15 Jahren war ich das letzte Mal hier. 15 Jahre. Es war so viel passiert.

Ich bog in die Auffahrt ein und hielt direkt vor dem Haus an. Musterte die teuren Wagen, die davorstanden. Ich wusste, dass es an eine Familie verkauft wurde, die eine große Firma besitzt. Und dass sie viel verändern wollten, als sie es kauften.

Haben sie nicht.
Das schmiedeeiserne verschnörkelte Tor, das ich in mühevoller Kleinarbeit mit meinem Vater zusammengeschweißt hatte, hing immer noch an der einen Stelle schief, so dass es nicht von den goldenen Römerköpfen gehalten werden konnte, wenn es offen stand. Die Mauer zum Wohnwagenstellplatz hin, die ich gemauert hatte, war schmuddelig und ungepflegt und bräuchte dringend einen Kärcher und danach einen neuen Anstrich. Die Lampen auf den Mauersockeln waren mit Moos bedeckt und unpoliert. Die Büsche schlecht geschnitten. Das Dach müsste vielleicht mal neu gedeckt werden. Die große Weide, in der ich so viele Stunden als Kind verbrachte, war weg und ist dem hässlichen Riesenwacholder gewichen, auf den ich allergisch reagierte.

„Mama?“ 

Ich zuckte zusammen. Wir saßen immer noch im Auto.

„Wo sind wir?“

- Das ist mein Elternhaus. Hier habe ich gewohnt, als ich so alt war wie ihr beide jetzt.

Wir stiegen aus. Halb hoffte ich, es würde jemand aus dem Haus treten, dem ich mich vorstellen könnte, halb fürchtete ich es. Es geschah nichts. Und so stand ich da und wusste nicht so recht, wohin mit mir. Das epische Erlebnis blieb aus. Sollte ich mich geirrt haben? War es gar nicht wichtig, dass ich hierher kam?

„Das Haus ist superhässlich.“

Ich sah mein Kind an. Und dann das Haus. Ich hatte nie auch nur irgendetwas anderes als Bewunderung für dieses Gebäude gehört.

Die Kriegerin sah sich skeptisch um. „Und was hast du hier so gemacht?“

- Meistens bin ich weggelaufen. Hinter dem Haus beginnen die Felder, der Bach und wenn man einige Kilometer querfeldein gelaufen ist, ist da eine gigantische…

„Zeig es uns!“

Der Butz lachte und spurtete los. Ich setzte mich in Bewegung und fühlte mit jedem Schritt, wie sich die Vergangenheit mit der Gegenwart synchronisierte.
Hier.
Hier musste ich hin.
Ich lief schneller. Die beiden Kinder rannten den Weg neben dem Bach entlang Richtung Felder. Kaum dass wir die Häusergrenze hinter uns gelassen hatten, umfing mich die ohrenbetäubende Stille, wegen der ich früher immer hierhin flüchtete. Plötzlich war ich 8, ich war 12, ich war 15, ich war 45, es war Morgen, es war Tag, es war Mitternacht, es war jetzt und vor 30 Jahren, als ich erschöpft vom Laufen im Sommer unter klarem Sternenhimmel zu Boden sank, in die Unendlichkeit des Weltalls blickte und erkannte, wie klein und bedeutungslos wir alle im Vergleich zum großen Ganzen waren. Und trotzdem ein Teil davon. Ich spürte, wie mich der Trost durchströmte, die Kraft, die ich früher an genau diesem Ort gesammelt hatte, um mich dem nächsten Tag zu stellen. Um nicht aufzugeben, um nicht wahnsinnig zu werden.

Hier war ich richtig. Das Haus war gar nicht der Ort, an den ich zurückkehren musste. Wie blind ich war. Hier. Hier waren viel wichtigere Weichen für mein Leben gestellt worden.

Ich zeigte den Kindern den geheimen Übergang über den Bach, der hinter dichtem Bewuchs verborgen lag. Wo ich unter der Brücke in die Maueraussparung gekrochen war, um mich zu verstecken, wo ich geschlafen habe, wenn mich keiner suchte. Wo ich glücklich war.

Wo ich glücklich war…

Diese Worte brachten alles in mir zum Klingen. Hier. Hier war ich früher glücklich. Hier war Hoffnung. Meine Hoffnung. Hier war das Herz grün und voller Zuversicht für meine Zukunft.

Hier war ich frei.

Als wir Stunden später fuhren, wusste ich, dass ich nicht mehr zurückkommen würde.
Das letzte Puzzleteil liegt an seinem Platz.

Kati 10.12.2023, 06.00| (6/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Vom Leben und Sterben



Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

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