Covidnachwirkungen Tag 23
Am Freitag war ich das erste Mal wieder „draußen“. Heißt - weiter als kurz auf die Terrasse, um dann vor Erschöpfung zusammenzubrechen. Ich war beim Orthopäden, konnte mich einmal von oben bis unten wieder geraderuckeln lassen und es ging mir danach zumindest von den Sturzfolgen und den Muskelverspannungen deutlich besser als vorher.
Der Rest ist nach wie vor eine Katastrophe. Die Nasennebenhöhlen sind immer noch zu, ich habe jeden Tag Zahn- und Gelenkschmerzen, am letzten Wochenende war ich mitten in einem Gichtschub, obwohl ich nichts außer Kartoffeln und Eiscreme esse. Ich rieche und schmecke nichts. Mein Gehirn scheint sich deutlich zu regenerieren, meine Laune und seelische Allgemeinverfassung auch, die Hoffnungslosigkeit erwischt mich meistens nur noch abends und nachts.
Libido hängt bei mir anscheinend existentiell am Geruchssinn, solange ich nichts wahrnehme, komme ich geistig und körperlich nicht mal in die Nähe dieses Themas. Das belastet vor allem mich außerordentlich. Der eingebildete Ammoniakgestank ist verschwunden und dem intensiven Aroma von verbranntem Plastik gewichen - wahlweise Essen oder Menschen „riechen“ für mich manchmal danach. Ich habe inzwischen gelernt, wahrzunehmen, wo ich auch ohne riechen zu können bestimmte Gerüche fühlen kann. Ich spüre an der Haut, dass gekocht wird, ich kann die Öfen der Nachbarn draußen am Kratzen im Hals „riechen“, die Kinder hinterlassen eine Wärmespur, die ich früher nie wahrgenommen habe.
Aber unterm Strich hasse ich alles an diesem Zustand. Vanille geht immer noch, mein Lichtblick und ein Feuerwerk im Gehirn, so dass ich in den ganz trostlosen Momenten am Backschrank stehe und weinend am Glas mit den Vanilleschoten schnuppere.
Zwei ganze Sinne, einfach weg.
Covidnachwirkungen Tag 13 - Freitag
Ich bin in einem desaströsen Allgemeinzustand, da möchte ich mir nichts vormachen. Zahnfleischbluten beim Aufwachen scheint der neue heiße Scheiß zu sein. Ich sitze hier und frühstücke ein weiteres Mal Pellkartoffeln, weil diese das Einzige sind, was ich nicht schmeckend im Mund beim Essen einigermaßen gut ertragen kann. Eiscreme geht auch noch, die esse ich aber abends, wenn der Hals maximal weh tut. Einiges Tierisches hat nach wie vor intensiven Ammoniakgestank und der Rest verschwindet in der geruchlichen Versenkung. Manche Gerüche nehme ich als existent wahr, ich kann sie aber nicht riechen. Es ist gruselig faszinierend. Parfum nehme ich als "vorhanden" wahr, ich rieche es aber nicht. Ich kann sagen, dass jemand kocht, aber es scheint irgendeinen anderen Sinn zu kitzeln als den Geruch.
Für ein Raubtier ist das schon eine ziemlich schwache Leistung, sollte man doch denken, dass einige Inhalte eigentlich immer irgendwie Alarm im Gehirn auslösen sollten, aber auch da muss ich passen. Ich stecke meine Nase inzwischen in Dinge, die die anderen aus 5 Meter Entfernung schon als viel zu intensiv wahrnehmen und es passiert exakt gar nichts.
Was ich nach wie vor deutlich rieche, ist Vanille.
Apex Predator eben.
Covidnachwirkungen Tag 12 - Donnerstag
Davon aufgewacht, dass ich den Mund voller Blut habe. Nach dem Übergeben festgestellt, dass ich im gesamten Mund aus dem Zahnfleisch blute. In einer Stärke, die an starkes Nasenbluten erinnert. Eine halbe Stunde später war der Spuk vorbei, es bleiben pochende Zahnschmerzen. Der Husten ist wieder schlimmer geworden, der Allgemeinzustand im Gesamten aber eigentlich besser. Immer noch wochenbettähnliche Periodenblutungen ohne Pause. Bin erschöpft davon, zuzusehen, wie die anderen nach überstandener Erkrankung einfach wieder in den Alltag wechseln.
Covidnachwirkungen Tag 11 - Mittwoch
Deutliche Verschlimmerung. Müde, mutlos. Kalt. Innen wie außen.
Covidnachwirkungen Tag 10 - Dienstag
Die Träume bringen mich um. Sie sind zu lebendig, zu echt, zu nah an Erinnerung und Erleben, als dass ich sie morgens beiseite legen könnte, damit sie verblassen. Ich wache auf, fahrig, verzweifelt, voller Schmerz und Seelenpein, weil das, was ich träume, nicht von der Realität zu unterscheiden ist. Ich muss mich versichern, dass sie noch alle da sind, dass ich unversehrt im Bett liege statt wieder irgendwo angeschnallt zu warten, was mit mir gemacht wird, dass ich sicher und warm und behütet bin und dass sie alle tot sind. Es braucht seine Stunden im Hier und Jetzt, bis ich mich nicht mehr in Agonie krümme, sondern den Neocortex mit so vielen Eindrücken gefüttert habe, dass er wieder die Kontrolle übernimmt und mir glaubt, dass das alles 30 Jahre und nicht 30 Minuten her ist. Es ist anstrengend und ich bin müde und zu Tode erschöpft. Ich habe schon so lange nicht mehr auf diese Art geträumt.
Covidnachwirkungen Tag 9 - Montag
Der Test ist negativ. Mein Körper scheint da grundlegend anderer Meinung zu sein, denn es wütet nach wie vor schmerzhaft in mir, auch wenn ich weiter Besserung fühle. Das nächste Kind ist krank und ich mache mir ein weiteres Mal Sorgen. Wenn wir nur nicht alle so vorbelastet wären. Herz, Lunge, Immunsystem. Ich kann nur hoffen. Ich erinnere mich gut an gestern und ich erinnere mich seit einer Woche an das erste richtige Lachen am Abend. Liebe Menschen tun ohnehin das ihre, dass ich zumindest in den Stunden Discord am Abend alles andere zur Seite schieben darf, aber gestern überwiegten nicht die Schmerzen beim Sprechen und die Angst, dass jederzeit der Husten kommen kann, sondern die Leichtigkeit und der Spaß. Für mich das deutlichste Zeichen dafür, dass es bergauf geht. Ich rieche und schmecke nach wie vor nichts, die Periodenblutungen erinnern mehr an Wochenbett als an normale Menstruation, die Atemwege sind heute deutlich freier.
Covid Tag 8 - Sonntag
Heute vor einer Woche um diese Zeit erlag ich noch dem Größenwahn, dass so viele Leute von "wie ein leichter Schnupfen" sprechen, dass es mich vielleicht auch verschonen würde. Und bei allem, mit dem ich mich herumschlage, bin ich mir dessen bewusst, dass ich medizinisch gesehen einen sehr milden Verlauf habe. Ich weiß das und bin dankbar, zuhause sein zu können. Für den Rest ... bin ich vielleicht nicht allzu dankbar. Ich glaube, ich bessere mich. Der Husten geht zurück, die Nasennebenhöhlen pochen nicht mehr bei jedem Schritt. Dafür sind die Magen-Darm-Koliken auf einem armseligen Höhepunkt und ich weiß manchmal nicht, wie ich mich währenddessen überhaupt noch aufrecht halten soll. Gelenk-, Zahn-, Glieder-, Kopfschmerzen heute wieder aus der Hölle. Schwindel und Kreislaufprobleme. Konzentrationsprobleme. Schwächegefühl. Angst, Panikattacken. Ich hatte die Woche über das Gefühl, dass meine innere Aggressivität massiv zugenommen hat. Keine Genervtheit, keine Wut, sondern dass meine innere Hemmschwelle für echte Aggressivität massiv sinkt. Das erschreckt mich. Der Mann hat mir erzählt, dass ich ihn am Montag unangemessen intensiv für eine Banalität angegangen sei - ich erinnere mich an nichts davon. Dieser ganze Komplex, wie das Virus anscheinend jeden Bereich des menschlichen Seins beeinflussen kann, schockiert mich zutiefst. Ich hab wirklich schon unendlich viele Krankheiten und Verletzungen in meinem Leben ausheilen müssen - nichts davon ist irgendwie vergleichbar.
Covid Tag 7 - Samstag
Die Nacht war bislang die erholsamste - mit Abstand. Nur ein richtiger Hustenkrampf mit Übergeben, ansonsten nur ein paar Hustenanfälle, aber ohne Atemnot und ich konnte danach einigermaßen gut weiterschlafen. Die lebhaften Träume halten an, die Schmerzen werden insgesamt langsam etwas weniger. Das Gehirn scheint sich weiter zu erholen, ich kann Gespräche von gestern Abend wiedergeben und erinnere mich an das meiste, das gestern passiert ist. Nachdem ich vorgestern versucht habe, ein Buch zu lesen und nach einer Viertelstunde aufgegeben habe, weil ich den Inhalt der ersten Seite nicht erfassen konnte, habe ich gestern Abend gehäkelt und der Automatismus von 43 Jahren häkeln greift zwar, es ist aber unfassbar anstrengend und nötigt mir echte Konzentration ab. Der beißende Gestank nach Ammoniak geht immer noch von allem aus, was tierische Bestandteile hat, ich rieche und schmecke nach wie vor nichts bis auf eine Ausnahme: Ich kann Vanille riechen. Ich bin müde und kraftlos und verliebt in die Idee, etwas zu essen, was lecker schmeckt.
Covid Tag 6 - Freitag
Ich bin wacher. Was gestern als undifferenziertes Gefühl begann, manifestiert sich heute in Gewissheit. Ich denke wieder schneller, ich muss die Worte nicht erst mühsam aus Kisten kramen, ich kann wieder besser formulieren und auch kommunizieren. Trotzdem bewegt sich nach wie vor alles in Zeitlupe statt Echtgeschwindigkeit. Der Verlust von Geruch und Geschmack ist hart. Es ist, als würde der Welt ein grundlegender Baustein fehlen. Der von niemandem sonst wahrzunehmende Ammoniakgestank hängt nach wie vor über allem, was tierischen Ursprungs ist. Der Husten ist noch mal fester geworden, die Krampfanfälle schlimmer, es löst sich nichts mehr. Dreimal musste ich in der Nacht wieder 20 Minuten einfach nur am offenen Fenster stehen und versuchen, zwischen den Husten- und Würgeanfällen einigermaßen ruhig zu atmen ohne panisch zu werden. Zum draußen schlafen ist es leider zu kalt, die Temperatur fiel empfindlich unter die Grenze, bis zu der ich krank draußen schlafen kann. Nasennebenhöhlen unverändert, Kopfschmerzen eher hämmernd als stetig, Magen und Darm liefern noch das volle Programm. Ich bin müde. Müde und unendlich erschöpft. Alle Muskeln tun weh, der Nacken ist komplett steif und verspannt, ich kämpfe mit Kreislaufproblemen und starken Schwindelanfällen.
Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.
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