Blogeinträge (themensortiert)

Thema: Oma mit der Uhr dran

Lebendige Erinnerungen

Seit ich denken kann, wurde bei meinen Großeltern das gute Geschirr nur zu besonderen Anlässen auf den Tisch gestellt. Das konnte ein großes Familienessen sein, bei dem das Besondere war, dass wir uns nicht zu fünft oder zu mehr in die winzige Küche quetschten, sondern ins auch nicht viel größere Wohnzimmer wanderten, wo der Couchtisch ausgezogen und mit Tischdecken geschmückt wurde.
Oder ein Weihnachts- oder Osteressen.
Zur goldenen Hochzeit stand natürlich das gute Geschirr auf dem Tisch, zur Diamantenen auch. Ansonsten blieb es im Wohnzimmerschrank.
Gemeinsam mit dem guten Besteck und den Kristallgläsern.
Diese Dinge hatten sie sich in jungen Jahren nach der Eheschließung zusammengespart.
18 Teller, Tassen, Suppenteller, Untertassen, Kuchenteller, mehrere Terrinen, Schüsseln in jeder Form und Größe.
Sauciere, Zuckerpott, Butterdose, was man sich nur vorstellen kann.
Ebenso 18 Mal jede Art von Kristallgläsern und Besteck.
Alles nur für gut.
Im Alltag gab es zusammengewürfeltes billiges Geschirr, das hässlicher nicht hätte sein können.

Als Uroma ins Heim kam, bat sie uns - falls wir es haben wollten - Geschirr, Besteck und Kristallgläser zu übernehmen.
Ich hatte besonders die Teller schon immer geliebt.
Dieses feine Porzellan, mit dem ich wohlig warme Erinnerungen an das Zusammensein mit meinen Großeltern verbinde. Liebevoll selbstgekochte Mahlzeiten mit frischen Zutaten waren etwas, das bei mir zuhause nur die Ausnahme war. 

Also übernahm ich es und tauschte mein Alltagsgeschirr dagegen ein.
Als Uroma uns das erste Mal besuchen kam, war sie schockiert, dass sie dort auf ihrem guten, jahrzehntealten Geschirr plötzlich Nutellabrote für einen Dreijährigen wiederfand.
Ich versöhnte sie ein bisschen mit der Welt, indem ich ein mehrgängiges Weihnachtsmenü auf den Tisch (und das Porzellan) brachte und damit meine Sünde ein wenig relativierte.
Wir sprachen trotzdem nie wieder davon.

Bis wir sie zu uns nach Hause holten, damit sie die letzten Monate vor ihrem Tod noch bei uns verbringen konnte.
Da fand sie plötzlich jeden Tag das gute Geschirr und das gute Besteck auf dem Alltagstisch einer nun 9köpfigen Familie wieder.

Und nach einigen Wochen gestand sie mir leise, dass es schön sei, zu erleben, dass wir ihr Geschirr jeden Tag hervorholten und davon aßen.
Sie würde so oft daran denken, dass damit ein Teil von ihr bei uns bleiben würde, wenn sie gehen würde.

Und so ist es auch. 

Jede Mahlzeit.
Jeden Tag.

Kati 04.02.2019, 12.00 | (0/0) Kommentare | PL

Gebundene Hände

Es ist endlich soweit. Post vom Anwalt und Notar ist da - das Amtsgericht hat den Erbschein ausgestellt.

Knapp 10 Monate nach dem Tod von Uroma. 
Aufgrund seines Wohnsitzes im Ausland hatte mein Vater 6 Monate Zeit, das Erbe auszuschlagen und hat diese Zeit auch genutzt. 

Den Rest der Zeit verbrachten wir mit eidesstattlichen Erklärungen vor einem Notar, Anträgen, Einreichungen, Beantragung meiner Geburtsurkunde bei einem Standesamt, das es gar nicht mehr gibt, dem Bezahlen von Gebühren, dem Hinterhertelefonieren hinter unseren Anträgen und ... Warten. 

Warten, warten, warten.

Nun der erlösende Brief, mit dem wir Omas rechtliche Seite bearbeiten dürfen.
Jetzt darf dieses Kapitel nach langer Zeit zu seinem Abschluss kommen. Auch wenn es hauptsächlich darum geht, alle Außenstände bezahlen und Omas gesammelte Aktenordner endlich schließen zu dürfen. Was lange währt...

Kati 25.05.2018, 13.00 | (0/0) Kommentare | PL

Das Erbe

Heute vor 5 Monaten hat sie ihren letzten Atemzug getan.
Und ich habe sie begleitet.

Das Prozedere danach war unschön.
Wir mussten meine Eltern verständigen - mein Vater ist der einzige Sohn und damit der Erbe meiner Großmutter.
Das Gespräch verlief so, wie meine Eltern nun mal sind. Ohne Gefühl und auf ihren eigenen Vorteil bedacht.
Kurz danach die Frage, wie viel Geld noch da sei und dass wir das doch alles wohl noch zu ihren eigenen Gunsten abwickeln würden...
Sie würden sich mit dem Papierkram nicht befassen wollen.

Der Mann - mein Schild - sagte ruhig "Nein." und das war es dann mit dem Gespräch.
Oma wurde abgeholt und wir hatten bereits vor dem Gespräch mit meinen Eltern unseren Anwalt informiert.
Wir haben aus der Vergangenheit gelernt.

Oma wurde beerdigt und meine Eltern verfügten irgendetwas Beliebiges mit billig, anonym und schnell. Weil uns klar war, dass wir dort nicht würden erscheinen dürfen, verabschiedeten wir uns hier zuhause ausführlich von Uroma.
Der Bestatter unterdessen bewies ziemlich viel Courage und ließ mich alle Entscheidungen fällen, die meine Mutter an ihn abgegeben hatte. Und so kam Oma sowohl zu ihrer geschmückten weißen Urne mit Rosen, die sie ihr Leben lang so sehr geliebt hatte, als auch zu einer Beisetzung, bei der wir alle anwesend sein konnten. Oder wie der Bestatter es ausdrückte: "Ich bin zu dieser Zeit an diesem Ort. Und wenn ich dort wie beauftragt allein für die Urnenbeisetzung stehe und es gesellen sich zufällig anteilnehmende Menschen dazu, dann ist das doch etwas Schönes, nicht wahr?"

Während meine Eltern sich vor, während und nach der Beerdigung mit unserem Anwalt auseinandersetzten und wir jede Mail von ihnen ignorierten, egal wie unverschämt sie war, packte ich Omas Sachen in Kisten. Mit viel Herzschmerz. Es gab so viel davon, was mir lieb und teuer war. Sie sagte immer, ich solle nach ihrem Tod behalten, was ich will, aber rechtlich geregelt haben wir das nie. Und mit jedem Teil, das mir so viele Erinnerungen bescherte, wurde mir das Herz schwer. Es gehörte jetzt nun einmal meinem Vater. Der würde es zwar wegwerfen oder verkaufen, aber wenn es fehlen würde, hätten wir innerhalb kürzester Zeit wieder ihre Anwälte auf dem Hals. Ich packte also alles sorgfältig in Kisten, verabschiedete mich auf diese Art von den greifbaren Erinnerungen an meine Großmutter. Alles wurde genau in Listen eingetragen, ich verbrachte mit den Kindern noch mehrere Tage in Uromas Zimmer. Bei jedem Stück, das mir eine Geschichte erzählte, gab ich diese an die Kinder weiter. Es war gut und es war heilsam.

Unser Anwalt übermittelte die genaue Auflistung von Omas Besitz an meine Eltern.
Und es passierte nichts.

Omas Sachen füllen ein großes Zimmer, das eigentlich unser Esszimmer ist.
Wir hatten Anfang letztes Jahres das Esszimmer ins Wohnzimmer verlegt, damit wir Platz haben.
Und nun stand dieses Zimmer mit Möbeln, Kisten, Rollstühlen und anderen Gegenständen voll.

Nicht lange, überlegten wir uns, sobald mein Vater rechtskräftig geerbt hätte, würden wir von ihm verlangen können, dass er die Sachen abholt.

Ich freute mich Ende August darauf, dass wir Weihnachten endlich wieder mehr Platz haben würden.
Endlich wieder Platz im Wohnzimmer, endlich den 1 x 2,50 m langen Esstisch wieder in einen eigenen Raum...
Endlich.

In der Zwischenzeit versuchten meine Eltern allerlei Dinge, um uns auf den wertlosen Sachen sitzen zu lassen, sehr wohl aber an verkaufbare Dinge zu kommen, ohne das Erbe offiziell anzunehmen oder auszuschlagen. Es funktionierte nicht.
Ich liebte den Mann und unseren Anwalt noch mehr als ohnehin schon, während ich versuchte, wieder gesund zu werden und bei jeder neuen Mail meiner Eltern nicht in Panik zu geraten.

Die Frist zur Ausschlagung des Erbes verlängerte sich von den erwarteten 6 Wochen auf unerträgliche 6 Monate, weil meine Eltern ihren Hauptwohnsitz im Ausland haben.
Dann - kurz vor Weihnachten - eine weitere Mail an uns, mein Vater würde das Erbe vielleicht annehmen, aber dann müssten wir uns um alles kümmern. Das wenige Geld nähmen sie, wir bekämen dann die Sachen, die zu nichts mehr zu gebrauchen sind. Zum Verkaufen. Oder zum Entsorgen. Oder so. Die Rechte an allem würde aber natürlich mein Vater behalten.
Es ist immer wieder bemerkenswert, wie ihre Welt sich dreht.

Der Anwalt schrieb einen wirklich feinen Brief zurück, dass ich den Teufel tun würde.
Ich lese diese Worte auch heute noch sehr gerne.

Die Zeit verging und wir feierten Weihnachten im Wohnzimmer mit unserem riesigen Esstisch und einem noch größeren Baum und ich hoffte einfach auf das nächste Jahr.

Ich stellte mich darauf ein, dass wir dann ab nächstem Monat die Räumung des Zimmers anmahnen würden.
Die Katzen schliefen inzwischen hoch oben auf Uromas riesigem Pflegebett und wir hatten zumindest ein paar Stühle ins Zimmer gestellt, die sonst im Weg waren.
Wir hatten uns nach fünf langen Monaten mit dem vollgestellten ehemals schönsten und hellsten Zimmer im Erdgeschoss arrangiert.

Und dann ging ich gestern zum Briefkasten, als ich mit dem Hund im Garten trainierte und zog Unmengen von Katalogen daraus hervor.
Dazwischen ein dicker Brief vom Amtsgericht.
Mein Herz klopfte laut, als ich ihn öffnete. Regen fiel auf den Text, der Hund sprang nass und dreckig um mich herum und da stand es, schwarz auf weiß:

Der erste Erbberechtigte hat die Erbschaft ausgeschlagen.

Ich stehe an zweiter Stelle der Erbfolge.

Als ich später am Abend eine der zugeklebten Kisten öffne, schlägt mir der vertraute Geruch meiner Großmutter entgegen.

Ich hatte eine Kiste mit Handtüchern erwischt.
Handtücher, an denen sich mein Großvater und ich nach unseren Abenteuern schon abgetrocknet haben.
Viele davon sind zerschlissen, einige sehen noch genauso aus wie vor 35 Jahren, als ich 5 war.
Handtücher, die mir von Kindesbeinen an so vertraut sind, weil sie mit Geschichten verknüpft wurden.
Mit Lachen, mit Geborgenheit, mit Spaß und Abenteuer, mit Müdigkeit und warmen Sommertagen im Garten.

Und nun gehören sie mir.

Und niemand kann sie mir mehr wegnehmen.

Kati 04.01.2018, 18.00 | (2/1) Kommentare (RSS) | PL

Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Zeit hat sich verändert, seit Uroma tot ist.

Sie vergeht nur noch langsam und sie scheint keine Eile mehr zu kennen.

Ich stehe morgens auf und muss mich nicht wappnen gegen das, was ich gleich hören, sehen und riechen werde.
Ich stehe dort, am Fuße der Treppe und lausche in die Stille.

Was kann ich tun?

Was will ich tun?

Eine Frage, die ich mir schon lange nicht mehr gestellt habe.

Was muss ich tun?

Die Frage ist schon vertrauter.

Die Uhr, die seit einigen Tagen wieder an ihrem angestammten Platz hängt, tickt.
Langsam.

Kinder toben an mir vorbei.

"Wir machen uns selber Frühstück!", kreischen sie.
"Mit viel Nutella!!", kräht das kleinste Kind.

Ich spüre, wie das "Pscht, Uroma schläft noch." meinen Hals hinaufkriecht.
Und spüre, wie das schlechte Gewissen hochploppt wie ein Springkastenteufel.
Wie jeden Tag der letzten fünf Monate.

Nichts von beidem hat noch Relevanz.
Uroma schläft für immer und die Kinder können so laut sein wie sie wollen.

Meine Schultern senken sich wieder und ich atme aus.
Die Uhr tickt.

Was muss ich jetzt tun?

Toilettenstuhl, waschen, Windelhose wechseln, saubermachen, umlagern, Essen vorbereiten, pürieren, kochen, dreimal in die Küche zurückbringen, weil es nicht das Richtige ist, von A nach B hetzen, dazwischen noch Termine für 8 weitere Familienmitglieder koordinieren, umlagern, Tabletten vorbereiten, füttern, Trinken anreichen, saubermachen, Bettwäsche wechseln, Kinder ermahnen, umlagern, saubermachen, alles desinfizieren, saugen, putzen, Wäscheberge waschen, putzen, umlagern, Essen machen, sich anmeckern lassen, sich hilflos fühlen, wütend werden, Wut runterschucken, die Ungeduld spüren, umlagern, saubermachen, putzen, Essen machen, saubermachen, aufräumen, saubermachen, Essen machen, saubermachen, umlagern, weinen, warten, dass der Mann abends nach Hause kommt, zusammenklappen, weinen, ins Bett fallen, zu wenig schlafen und fünf Stunden später das Ganze von Vorne.

Ich atme wieder ein.

Was muss ich jetzt tun?

Nichts.

Ich lächle.

Kati 09.08.2017, 12.00 | (2/2) Kommentare (RSS) | PL

Verwaltungsirrsinn

"Ist der/die Pflegebedürftige orientiert?"

Ich sitze an meinem Schreibtisch an der Seite 4 des Formulars des medizinischen Dienstes, der in Kürze feststellen wird, ob die knapp 90jährige mit Pflegestufe 2, die wir aus dem Altenheim gerettet geholt haben, eventuell nicht plötzlich doch wieder laufen, springen und sich selbst versorgen kann.
Haha.
Der Mann winkt beschwichtigend ab.
"Das müssen die kontrollieren, sonst könnte man ja sonstwas machen."
Achja? Was denn? Sie im Keller anketten und das ach so hohe Pflegegeld kassieren?
Mir fehlt da der Sinn für Humor, um nachvollziehen zu können, warum hier ein bestehender Pflegegrad kontrolliert werden muss.
Zumal es für die Pflegekasse deutlich billiger wird, weil ich ja umsonst arbeite.
Immerhin wird es auf meine Rente angerechnet. Hurra.
Vielleicht komme ich - nachdem ich seit 15 Jahren 6 Kinder großgezogen und eine Großmutter gepflegt habe - ja sogar auf 200 Euro Rente im Monat.
Später, wenn ich alt bin. Hossa, da freue ich mir aber einen Ast.
Mein Lebensmodell rentiert sich für alle, aber nicht für mich.

Zurück zu Frage 27.

Orientiert? Hm.

Als ich sie vor vier Tagen geweckt habe, hat sie Adolf Hitler ein Geburtstagsständchen gesungen.
Ja, sie weiß, welcher Tag da war.
Den Todestag meines Großvaters am Tag zuvor hatte sie vergessen.
Nach dem aktuellen Jahr fragt sie öfter mal, kann mir aber genau sagen, was das amerikanische Staatsoberhaupt für ein Arschloch ist.
Mit genau diesen Worten.
Ich werde entweder mit dem Namen meiner Mutter oder dem Namen meiner ältesten Tochter angesprochen.
Als meine große Tochter letztens ins Zimmer kam, wollte sie für ihre Physiotherapie unbedingt einen blauen Seidenblouson anziehen und fragte meine Tochter, warum sie denn nicht zum Termin gekommen sei.
Gestern hat sie mir eine halbe Stunde etwas von Harald erzählt.
Und was sie mit ihm besprechen möchte, wenn er gleich nach Hause kommt.
Nach ungefähr 20 Minuten habe ich gemerkt, dass sie von meinem Exmann redet, von dem ich seit 10 Jahren geschieden bin.
Ist die Frau orientiert?
Ich kann "Ja" ankreuzen oder "Nein".
Mehr nicht.

Ich verkneife mir gerade noch, beide Antworten durchzustreichen und in Großbuchstaben eine unflätige Bemerkung auf das Formular zu schreiben.

Kati 24.04.2017, 12.00 | (0/0) Kommentare | PL

Kaffeekränzchen mit dem Tod

"Kind, vielleicht sterbe ich heute. Ich bin schon seit Tagen so müde und könnte nur noch schlafen."

Ich sehe sie skeptisch an.

"Und Hunger habe ich auch ü-ber-haupt keinen. Nicht mal Appetit."


Ich schiebe die Schale mit Erdbeeren zur Seite und fange an, das Mittagessen abzuräumen.

"Die Erdbeeren nicht. Die lass mir mal für nachher noch da."

Ich grinse in mich hinein. "Und das Sterben?"

Sie blickt irritiert. "Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es gar nicht das Sterben. Vielleicht bin ich ja doch nur müde. Ich bin ja noch nie gestorben, wer weiß schon, wie sich das anfühlt..."

Die Kriegerprinzessin kommt herein und hört ihre letzten Worte. "Stirbst du heute schon?" Sie beißt von ihrem Muffin ab und wartet auf Antwort.

Uroma beäugt den Muffin. "Was isst du da?"

"Einen Kaffeemuffin von Papa, warum?"

Ich ahne schon, was kommt.

"Dann hol mir auch mal einen."

Ich nehme den leergegessenen Teller vom Tablett. "Möchtest du einen Kaffee zu deinem Muffin, Oma?"

"Ach, eigentlich habe ich ja überhaupt keinen Appetit. Aber bevor er mir so trocken im Halse stecken bleibt und ich dann daran sterbe... Das ist ja auch kein schöner Tod."

Als sie mit Kaffee und Kuchen in ihrem Bett sitzt, uns huldvoll  herauswedelt weil sie ihre Ruhe haben möchte und wir das Zimmer verlassen, flüstere ich dem kleinen Tochterkind zu: "Ich glaube, heute stirbt Uroma eher nicht."

Sie zwinkert mir zu:
"Naja. Zumindest nicht, so lange wir ihr genug Kaffee und Süßkram bringen..."

Kati 05.04.2017, 18.00 | (1/0) Kommentare (RSS) | PL

Der vorletzte Umzug

Interessiert sehen die älteren Damen mich an, als ich einen Umzugskarton nach dem nächsten aus Uromas Zimmer durch den Flur an ihnen vorbeitrage.

Sie sitzen auf den Sesseln im Empfangsbereich der zweiten Etage und blicken mir wortlos nach, als ich Karton um Karton in den Fahrstuhl trage.
Als ich kurze Zeit später mit den ersten Möbeln auf einem Rollwagen vorbeikomme, fasst sich eine von ihnen ein Herz und spricht mich direkt an.

"Hat sie's endlich geschafft?"

Mit anteilnehmender Miene und gleichzeitig voller Neugierde wartet sie auf meine Antwort.
Ich bin irritiert.
"Hat... was geschafft?"
, frage ich verwirrt.
Ich bin es ja gewohnt, dass hier andere Regeln für zwischenmenschliche Kommunikation gelten, doch die Dame vor mir macht eigentlich einen geistig recht fitten Eindruck.

"Na, ihre Großmutter. Hat sie es endlich geschafft? Mein Beileid."


Der Groschen fällt.
"Nein."
, grinse ich sie an. "Sie zieht nur um. Zu uns nach Hause. Das Heim ist einfach nichts für sie."

Es geht ein kollektives Seufzen durch die Sesselreihen neben mir.
Langsam tätschelt die alte Frau meinen Arm.
"Gott segne sie. Wir würden alle lieber zuhause sterben. Aber unser nächster Umzug ist der zum Friedhof."
Sie lächelt mich traurig an und mein Herz fließt fast über vor lauter Mitgefühl.

Die Sehnsucht nach einem Zuhause wohnt uns allen inne.
Und wenn es ans Sterben geht, dann sollte man an einem Ort Abschied vom Leben nehmen dürfen, der diesen Namen auch verdient.

Als ich wieder in Uromas Zimmer zurückkehre, wo sie mit dem großen Tochterkind bereits die nächste Kiste gepackt hat, blickt sie mich an und lächelt leise.
Ja.
Es war die richtige Entscheidung.

Kati 03.04.2017, 12.00 | (0/0) Kommentare | PL

89 Jahre ohne Nutella

Eine Woche ist sie nun schon bei uns.
Eine Woche inklusive Schimpfwörter, wie nur fast 90jährige sie von sich geben können, eine Woche Kriegserzählungen, eine Woche Anderswelt für die Kinder.
Eine Woche Arbeit, Stress und Sich-finden-müssen.
Eine Woche, die gut war.

Der Kobold hört sich tapfer alte Kriegsgeschichten an, Sirenen, die von Bombenangriffen künden, zerbombte Häuser, erfrorene Kinder, tote Fallschirmjäger, die in den Bäumen hängen.
Hitler, der plötzlich lebendig wird und so sehr im Kontrast zu dem geschildert wird, was in der Schule trocken in Büchern steht.
Erlebte Geschichte.

"Uroma, das ist ja alles supergruselig.", verkündet er.
Ich vergesse manchmal, dass ich von Klein an damit aufgewachsen bin und meine Kinder dieses Vorwissen nicht haben.
Alles ist neu, alles groß und erschreckend und auf erschreckende Weise auch faszinierend.

Wir sitzen beim Abendbrot.
Der Kobold hat natürlich Nutella auf seinem Platz stehen und natürlich schmiert er sich ein halbes Kilogramm davon auf sein Brot.
Wie könnte es auch anders sein.
Uroma sieht aus, als würde sie die Augenbrauen hochziehen, wenn sie noch welche hätte. Hat sie aber nicht.
"Dieses Nougatding hatten wir ja auch nie."

Der Kobold erstarrt.
Er versucht zu begreifen, was sie ihm da gerade erzählt. "Was meinst du damit?"

Uroma verkündet, dass sie noch nie in ihrem ganzen Leben Nutella probiert hätte und ich kann sehen, wie dem Kobold alles aus dem Gesicht fällt.
Fassungslos und entsetzt starrt er sie an und bemüht sich, die ganze Tragweite ihrer Aussage zu erfassen.
Langsam sickert es in sein Gehirn.
Er erschauert. Fast ehrfürchtig stellt er die Frage.

"Du meinst - du hast jetzt 89 Jahre lang ohne Nutella leben müssen?"


 Ich sehe, wie der Schrecken der vorangegangenen Kriegsgeschichten langsam der völlig verstörenden Erkenntnis weicht, dass es einen Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung gibt, der fast 90 Jahre lang auf Nutella verzichtet hat.
Neunzig.
Jahre.

Während ich am nächsten Morgen das Frühstück vorbereite, kommen sechs Kinder nacheinander zu mir in die Küche und animieren mich dazu, Uroma doch auf jeden Fall ein kleines Brot mit Nutella zu schmieren.

[Es schmeckt ihr]

Kati 27.03.2017, 12.00 | (1/0) Kommentare (RSS) | PL

Neun?

Natürlich haben der Mann und ich überlegt, ob wir sie nicht einfach hierher holen können. Auch unter diesem Aspekt beobachte ich sie während der Tage, die wir in der großen Stadt sind.

Schätze ab, wieviel Hilfe sie benötigt. Ob ich das leisten könnte.
Zusätzlich zu den eigenen vier Kindern, den zwei Zusatzkindern, Haus, Garten, Tieren und Ehrenamt.

Ich springe ins kalte Wasser. Ausziehen, anziehen, umziehen, waschen, zur Toilette bringen. Ich habe vorher Youtube-Videos angesehen, wie man das macht. Für irgendwas muss das ja gut sein.
("Die machen Tutorials für ALLES, Mama!", erklärte mir das große Kind professionell und so ist es tatsächlich)

Es ist überschaubar, aber fordernd. Wenn sie aktiv ist, ist sie es im wahrsten Sinne des Wortes. Aufstehen, zum Tisch, auf den Stuhl, einmal essen, trinken, Tabletten, zur Toilette, waschen, wieder zurück. Über das Weltgeschehen diskutieren, über Donald Trump herziehen, die Flüchtlingssituation erörtern, großer Bogen zum zweiten Weltkrieg,  als sie im Februar des letzten Kriegsjahres die Weserbrücken zerbombt haben. Zurück in die Gegenwart und in den Krankenhausalltag.

Wenn sie dann erschöpft ist, dann kippt ein Schalter um, der sie in den Dämmermodus versetzt. Zack. Noch kurz ins Bett, winken, bis später.
Dann gehen das Tochterkind und ich für drei Stunden in die Innenstadt, essen, bummeln und haben Spaß und finden sie beim Ankommen im Krankenhaus genau so, wie wir sie verlassen haben.

Das ginge dann auch nicht mehr.
Wenn sie hier zuhause wäre.
Oma kann nicht alleine bleiben.

Können wir das leisten? Wir haben eine absolut belastende Situation mit den Zusatzkindern hier und sind aus-gelastet. Andererseits läuft für Oma die Zeit. Ich will nicht, dass sie auf Dauer wieder ins Heim zurück muss. Wir würden denselben Zyklus von Depression, Verfall und Aufpäppeln im Krankenhaus doch immer wieder erleben. Alleine leben kann sie auf gar keinen Fall mehr. Zu viel ist vorgefallen.

Der Mann und ich sind ratlos, alle beide.
Auf der einen Seite steht der Kopf, auf der anderen Bauch und Herz.
Wer wird Recht behalten?
Für das Richtige plädiert bei uns keiner mehr.
Das ist letztes Jahr schon schief gegangen.

Kati 14.02.2017, 09.00 | (3/1) Kommentare (RSS) | PL

Der Tod lässt ausrichten, er sei verhindert

"Ich werde jetzt sterben. Habt Dank für alles und macht es gut."

Das waren die letzten Worte, die wir von ihr hörten. Altenheim und Ärzte bestätigten die Situation.
Depressionen, Nahrungsverweigerung, massiver Gewichtsverlust, absoluter Verfall, Krankenhaus.

Das Tochterkind und ich fuhren also auf große Fahrt in die Stadt, die so weit von uns entfernt ist. Zumindest noch persönlich Lebewohl sagen, einmal noch in den Arm nehmen, einmal noch die Hand streicheln, einmal noch...
Es sollte anders kommen.

Die Fahrt dorthin war grauenhaft. Halb rechnete ich damit, dass uns unterwegs der Anruf erreichen würde, dass sie gestorben sei, dass wir zu spät kämen und der Tod schon vor uns da gewesen sei.
Wettlauf gegen die Zeit mit dem Tod.
Großes Lebenskino.

Nur schnell ein paar hundert Kilometer fahren, schnell ins Hotel, schnell die Sachen aufs Zimmer bringen, Schlüssel einstecken und ab ins Krankenhaus.

Wir stürmten halb ihr Zimmer und auf einem riesigen Krankenhausbett saß klein, schrumpelig und weiß, in einem viel zu großen Nachthemd mit lila Punkten darauf: meine Großmutter.

"Wir sind es!", stellte ich das Offensichtliche fest und nahm sie in den Arm.

"Ich will dir mal eins sagen, Kind!", zeterte sie als Begrüßung los: "Der Tod will mich anscheinend nicht!"

Ich schnaufe ein wenig amüsiert, als ihre Bettnachbarin zusammenzuckt und murmelt: "Das sagt man doch nicht..."

"Die ist noch grün hinter den Ohren. Erst 86. Hier!"
, fuchtelt Oma mit ihrer Leberwurststulle vor meiner Nase herum. "Setzt euch und erzählt mir, warum ihr hier seid!"

"Ähm. Oma. Du hast gesagt, du stirbst jetzt einfach? Das geht doch nicht ohne tschüss zu sagen..."  Sie lacht.
Das Tochterkind sammelt sich ob einer sehr fidelen und motzigen Urgroßmutter, die weit von dem entfernt ist, auf das ich sie auf der Fahrt hierher schonend vorbereitet habe.

Sie isst. Trinkt. Bewegt sich.
Es scheint besser zu gehen als im Heim, in dem sie sich auch nach drei Jahren noch nicht eingelebt hat.
Trotz Medikation gegen ihre Depressionen, trotz Ablenkung. Es ist nicht ihres.
Sie hat es sich nicht ausgesucht, von meinen Eltern dort hineingesteckt zu werden und dann nichts mehr von ihnen zu sehen.

Sie will seit langen Monaten nur noch sterben, ich weiß das.
Wir sprechen jedes Telefonat darüber, doch es klappt einfach nicht.

Doch noch nie war es so ernst wie dieses Mal.
Sie hat alles verschenkt, alles geregelt, sich von allen verabschiedet.

Ein hellwacher Geist in einem langsam verfallenden Körper.
Es ist ein Alptraum, der sie nicht mehr loslassen wird.

"Ich gehe nicht mehr zurück ins Heim.
Kuck mal, ob man die Fenster öffnen kann. Das ist doch der 6. Stock, oder?"

Ich seufze. "Du kommst doch nicht mal aufs Fensterbrett, Oma."

"Ach Scheiße!"
, flucht sie laut und ihre Zimmernachbarin starrt sie mit weit aufgerissenen Augen entsetzt an. 

Kati 13.02.2017, 13.00 | (1/0) Kommentare (RSS) | PL



Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

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